Wie Flick den großen Ancelotti entschlüsselt
Nach der bitteren Halbfinal-Niederlage mit dem FC Barcelona gegen Inter Mailand hat Hansi Flick keine Zeit zum Durchschnaufen. Schon am Sonntag steht mit dem Clásico gegen Erzrivale Real Madrid ein möglicherweise vorentscheidendes Spiel im Meisterrennen an. Doch die Vorzeichen für den ehemaligen Bayern- und Bundestrainer könnten besser nicht sein.
Carlo Ancelotti zählt zu den erfolgreichsten Trainern der Fußballgeschichte. Allein als Coach von Real Madrid gewann der Italiener bislang unter anderem dreimal die Champions League - mit insgesamt fünf Titeln ist er Rekordhalter - und zweimal die spanische Meisterschaft. Im vergangenen Jahr wurde er von der FIFA als Welttrainer ausgezeichnet. Besser geht nicht.
Und doch geht die Trainer-Ikone in dieser Saison wohl gänzlich leer aus, was Silberware angeht. Eng verbunden mit den dann verfehlten Saisonzielen wäre dann vor allem einer: Hansi Flick.
0:3 lautet bislang die Bilanz aus Sicht von Ancelotti, wenn es in der laufenden Spielzeit gegen den FC Barcelona ging. 0:4 sogar, wenn man das Vorbereitungsspiel im vergangenen August hinzuzählt. Besonders bitter aus königlicher Sicht waren die Final-Pleiten im Superpokal (2:5) und im Pokal (2:3 n. V.), die dem Deutschen seine ersten Barca-Titel bescherten. Doch auch die 0:4-Klatsche im Liga-Hinspiel hatte es in sich.
Flick, so viel ist vor dem Clásico-Rückspiel am Sonntag (16:15 Uhr) klar, ist der personifizierte Ancelotti-Schreck.
Um Flicks Erfolgsgeheimnis näherzukommen, lohnt aber ein etwas genauerer Blick auf die drei Pflichtspielduelle.
Deklassiert im eigenen Stadion, oder wie die Tageszeitung "El País" damals titelte: "Barcelona verwüstet das Bernabéu - Madrid verzweifelt in Flicks gewagter Falle". Mit dem 4:0-Sieg löste Flick eine erste, gewaltige Euphoriewelle in Barcelona aus. Denn: Wenige Tage zuvor hatte man den FC Bayern in der Champions League mit 4:1 aus dem eigenen Stadion geschossen.
Dass es gegen Ancelottis Königliche so gut lief, lag derweil vor allem daran, dass Flicks Risiko-Plan aufging. Die Viererabwehrkette um Pau Cubarsì, Inigo Martínez, Alejandro Balde und Jules Koundé positionierte sich ungemein hoch, teilweise auf Höhe der Mittellinie. Die Folge: Real-Superstar Kylian Mbappé lief sagenhafte achtmal ins Abseits und sah keinen Stich. Zudem konnte Barca die Räume noch enger machen und die Madrilenen unter Stress setzen.
Vor dem Tor blieb Barcelona derweil eiskalt: Robert Lewandowski, erster Pressingmotor der Flick-Truppe, traf nach der Pause per Doppelschlag binnen zwei Minuten, Lamine Yamal und Raphinha machten die Demontage komplett.
Die nächste Demütigung für Real Madrid setzte es zu Beginn des Jahres. Zwar gelang Kylian Mbappé früh die Führung, doch danach war nur noch Barca an der Reihe: Wunderkind Lamine Yamal dribbelte die Real-Abwehr schwindelig, Lewandowski, Raphinha und Balde machten vor der Pause bereits alles klar. Der zweite Raphinha-Treffer und der Anschluss von Rodrygo nur Ergebniskosmetik.
Apropos Raphinha. Den Brasilianer hat Flick Verkaufskandidaten zum absoluten Unterschiedsspieler geformt. "Er hat meine Karriere verändert", sagte der Angreifer und inzwischen Führungsspieler zuletzt. Beide verbindet seit Flicks Amtsantritt ein enges Vertrauensverhältnis - das sich auf dem Spielfeld auf beeindruckende Weise auszahlt. 32 (!) Tore und 25 (!) Vorlagen gelangen ihm 2024/25 in 53 Pflichtspielen, allein gegen Real lieferte er bislang fünf Scorer.
In jenem Clásico setzte Flick erneut auf frühes Pressing, gepaart mit schnellem und direktem Spiel nach vorne. Diesmal wählte er eine Formation im 4-3-3 mit Pedri, Gavi und Casadó im Zentrum. Auch diesmal ging sein Plan auf.
Allerdings: Die ballstarken Mittelfeldspieler konnten das Aufbauspiel auch deshalb an sich reißen, da die Offensivreihe von Real einen rabenschwarzen Tag erwischte und zu zaghaft die Viererkette von Barcelona attackierte. Vor allem Jude Bellingham, Vinicius Junior und Kylian Mbappé mussten hinterher reichlich Kritik einstecken.
Flick jubelte hingegen: "Wir haben eines der besten Teams der Welt geschlagen - und das schon zum zweiten Mal in dieser Saison."
Ein Spiel, das deutliche Spuren bei Real Madrid hinterlassen hat und sicher zusätzlichen Ansporn zur Revanche gibt. Drei (!) Rote Karten handelten sich die Hauptstädter in der Nachspielzeit der Verlängerung ein, bei Antonio Rüdiger brannten die Sicherungen völlig durch.
Pedri hatte Barca in Führung gebracht, ehe die Franzosen Mbappé und Tchouaméni die Partie zunächst auf den Kopf stellten. Doch Ferran Torres und in der Verlängerung Koundé bescherten Flick seinen zweiten Titel in Spanien.
Auch, wenn es am Ende denkbar knapp war: Seine Mannschaft hatte mehr vom Spiel, wie die Statistiken zeigen. So hatte Barcelona beim Ballbesitz (59 %), bei den Schüssen (22 zu 15, 9 zu 7 aufs Tor) und beim xG-Wert (1.76 zu 0.82) jeweils die Nase vorn. Diesmal hatte der Fußballlehrer mit einer etwas offensiveren 4-2-3-1-Formation agieren lassen, in der Dani Olmo auf der Zehn spielte.
Ein Schlüsselaspekt in diesem Spiel aus Sicht von Barcelona war die besondere Mentalität, die Flick der Mannschaft eingehaucht hat. "Sie haben auf dem Platz immer eine Antwort gefunden, kämpfen um jeden Ball, sie geben nie auf." Es war keiner dieser Gala-Auftritte wie zuvor, doch Barca kann unter dem Ex-Bundestrainer eben auch arbeiten.
Welchen taktischen Ansatz Hansi Flick nun im so wichtigen Liga-Rückspiel wählt, ist unklar. Zu erwarten ist aber, dass Carlo Ancelotti und seine Truppe mit jeder Menge Wut im Bauch nach Barcelona reisen werden. Nur mit einem Sieg besteht für die stolzen Hauptstädter wohl noch eine Chance auf die Meisterschaft.
Vier Punkte beträgt der Vorsprung der Blaugrana, die zudem das deutlich bessere Torverhältnis (+58 Differenz zu +36 Differenz) vorweisen. Gewinnt Barcelona auch den vierten Clásico in diesem Jahr, könnte man schon in der Woche darauf im Stadtderby gegen Espanyol alles klar machen.
Ein möglicher Vorteil für die Ancelotti-Elf: Die Königlichen haben anders als die Barca-Stars keine 120 Minuten voller Champions-League-Drama in den Knochen, konnten sich daher mit der nötigen Akribie auf die Partie vorbereiten.
Übrigens: Sollte Hansi Flick auch das vierte Duell in Folge gegen Real gewinnen, würde er in die Fußstapfen eines gewissen Pep Guardiola treten. Dem Spanier gelang dieses Kunststück zwischen 2008 und 2010.