Die in Deutschland geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Europawahlen ist verfassungswidrig. Die Sperrklausel verstoße gegen die Chancengleichheit der Parteien, entschied das Bundesverfassungsgericht. Die entsprechende Regel des deutschen Europawahlgesetzes sei nichtig. Die Europawahl von 2009 muss deshalb aber nicht wiederholt werden.
Der Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle verwies in der Urteilsbegründung auf die strukturellen Unterschiede zwischen dem EU-Parlament und dem Bundestag. Das EU-Parlament wähle keine Regierung, die auf seine andauernde Unterstützung angewiesen sei. Zudem sei die EU-Gesetzgebung nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im EU-Parlament mit einer stabilen Koalition abhängig. Dass die Arbeit des Parlaments durch den Einzug weiterer Kleinparteien unverhältnismäßig erschwert werde, sei nicht zu erkennen.
Das Urteil erging mit sechs gegen drei Richterstimmen. Die Richter Rudolf Mellinghoff und Udo di Fabio kritisierten den Urteilsspruch ihrer Kollegen in einem Sondervotum. Ihrer Ansicht nach ist die Sperrklausel zulässig, weil sie Funktionsbeeinträchtigungen des EU-Parlaments verringern soll. Zudem seien Wahlrechtsfragen der "politischen Gestaltung des Gesetzgebers unterworfen", das Gericht müsse sich deshalb zurückhalten.
2,8 Millionen Wähler nicht vertreten
Der klagende Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim und zwei weitere Wähler hatten in der mündlichen Verhandlung gerügt, etablierte Parteien würden auf Kosten der kleinen von der Sperrklausel profitieren, da sie proportional mehr Sitze im EU-Parlament in Straßburg erhalten, wenn kleine Parteien an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Bei der Wahl von 2009 seien wegen der Sperrklausel etwa 2,8 Millionen deutsche Wählerstimmen unter den Tisch gefallen.
Die Freien Wähler erhielten damals 1,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, Die Republikaner 1,3 Prozent. Auch die Tierschutzpartei (1,1), die Familien-Partei Deutschlands (1,0), die Piratenpartei (0,9), die Rentner-Partei (0,8), die Ökologisch-Demokratische Partei (0,5) und die rechtsextreme DVU (0,4) konnten jeweils deutlich mehr als 100.000 Wähler auf sich vereinigen. Da Deutschland derzeit 99 Abgeordnete im Europäischen Parlament stellt, wäre ohne jede Sperrklausel ein Stimmanteil von etwa 1,0 Prozent nötig, um ein Mandat zu erringen.
In der mündlichen Verhandlung hatte der CDU-Abgeordnete Thomas Strobl als Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses des Bundestags die Sperrklausel verteidigt. Im Bundestag seien sich alle Parteien mit Ausnahme der Linken einig, dass die Klausel die Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments sichere. Die Sperrklausel verhindere eine Zersplitterung des EU-Parlaments durch Vertreter kleiner und kleinster politischer Gruppierungen, die bei deutschen Wählern kaum verankert seien.
162 Parteien aus 27 Staaten
Die Kläger hatten dies zurückgewiesen: Einerseits gelte die Sperrklausel nur für in Deutschland gewählte Abgeordnete, die nur 13 Prozent aller EU-Parlamentarier stellten. Andererseits seien bei der Europawahl 2009 nur acht Abgeordnetensitze von der Sperrklausel betroffen gewesen. Da im EU-Parlament derzeit 162 Parteien aus 27 Mitgliedstaaten vertreten sind, falle eine geringfügige Erhöhung durch sechs oder sieben weitere deutsche Parteien mit jeweils einem oder zwei Abgeordneten kaum ins Gewicht.
Die Karlsruher Richter beanstandeten jedoch nicht die von den Klägern kritisierten sogenannten "starren Listen" für das EU-Parlament. Hier kann der Wähler nur die Liste an sich wählen, hat aber keinen Einfluss darauf, in welcher Reihenfolge die Kandidaten bei der Sitzverteilung zum Zuge kommen. Die Kläger hatten darin eine Verletzung ihres Wahlrechts gesehen.