Serie Adolf Hitler: »Aufrià über meine Person«, Teil 5
Verdrossen lief der Mann im hellen Regenmantel, eine Reitpeitsche in der Hand, durch die StraÃen Münchens stundenlang. Manchmal verirrte er sich in einem entlegenen Stadtteil und hatte dann Mühe, in seine Wohnung zurückzufinden.
Adolf Hitler fühlte sich allein, verlassen von seinen engsten Mitarbeitern. Hermann Göring war nach dem November-Putsch von 1923 in Italien untergetaucht, Mithäftling Hermann Kriebel hatte sich nach Ãsterreich abgesetzt. Selbst der Partei-Ideologe Alfred Rosenberg mochte nicht mehr an den Sieg der NS-Bewegung glauben.
Nur Hermann Esser, politischer Weggefährte seit 1919 und wegen undurchsichtiger Geschäfte in der Partei verhaÃt, war Hitler treu geblieben. Mit Esser und dessen Frau bummelte Hitler oft durch die StraÃen und schaute sich Schaufenster an. freilich nie sonderlich aufmerksam und stets von einer inneren Unruhe getrieben
Wie selten zuvor war Hitlers Stellung in der NSDAP umstritten, rumorte es im Untergrund der Partei. »Nach meiner Rückkehr aus der Festungshaft und der erfolgten Wiederzulassung der Partei«, so berichtet Hitler, »entschloà ich mich, aufs neue von Anfang an wieder zu beginnen. Ich hatte wirklich in den ersten Monaten des Jahres 1925 gar nichts zur Verfügung.«
Die Führung der nord- und westdeutschen Nationalsozialisten hatte er einem Konkurrenten, dem NS-Organisator Gregor Strasser, überlassen müssen, während die Anhänger des Ex-Generals Erich Ludendorff, beim November-Putsch von 1923 noch an der Seite Hitlers, von der Partei abgefallen waren.
Nicht einmal in seiner bayrischen Domäne war Hitler unangefochten: Abtrünnige Parteigenossen wie Friedrich Plümer und Otto May verfaÃten Enthüllungsschriften ("Adolf Hitler und seine Kanaille") und hielten in Münchner Lokalen Vorträge, um ihren einstigen Führer als gewissenlosen Abenteurer, der andere ins Feuer schicke, zu entlarven. Auch Anton Drexler. einst von Hitler aus der Spitzenposition der NSDAP verdrängt, wetterte auf Kundgebungen gegen den Ex-Rivalen.
Hitler aber war zum Schweigen vor urteilt, nachdem ihn seit März 1925 die Regierungen fast aller deutschen Länder mit einem Redeverbot belegt hatten. Niedergedrückt saà er oft abends in dem kleinen Münchner Lokal »Osteria Bavania«, ein Glas Bier vor sich, und erörterte mit Freunden, wie es weitergehen sollte.
Doch lange gab er sich düsteren Stimmungen nicht hin. Hitler war entschlossen, seinen Führungsanspruch mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Lage der Partei erleichterte ihm sein Vorhaben: Die NSDAP war innerlich zerrissen.
Sie war nie eine einheitliche Partei gewesen. Ursprünglich ein völkisch-alldeutscher Kleinbürger-Verein, dann aufgeladen mit dem Ideengut des im Sudetenland entstandenen nationalen Sozialismus, kurz darauf degeneriert zum politischen Anhängsel der bayrischen Wehrverbände, Labyrinth einander befehdender Politiker des völkischen Lagers, war die NSDAP in zahllose Gruppen und Ideologien gespalten.
Die Parteigenossen fanden kaum mehr einen gemeinsamen Nenner -- er schien vollends zu verschwinden, je mehr sich die Partei ihrer sektiererischen Rolle im damaligen Deutschland bewuÃt wurde. Die NSDAP mit ihren 27 000 Mitgliedern war zur Sterilität verdammt, seit die Republik nach Inflation und Bürgerkrieg ihr ärgstes Tief überwunden hatte und zumindest wirtschaftlich stabileren Verhältnissen entgegenging.
Die Republik gewann endlich Ansehen im Ausland, sie bereitete sich auf den Eintritt in den Völkerbund vor und gewann die Sympathie der westlichen Finanzwelt. Da war den radikalen Parolen der NS-Agitatoren der Boden entzogen -- ihre Aggressivität kehrte sich nach innen, die Genossen suchten sich in der eigenen Partei ihre Feinde.
Die Zerrissenheit der NSDAP aber gab Hitler eine Chance: Genialer Synthetiker konträrster Meinungen, spielte er sich so
in den Vordergrund, daà er immer mehr als einzige Klammer der Partei erschien. Je mehr die anderen miteinander stritten, desto eher würden sie den Münchner Parteichef akzeptieren.
Entscheidend war dabei, daà Hitler allein das Gesetz des Handelns bestimmte. Kaltblütig löste er sich aus Bindungen, die seine Bewegungsfreiheit einengten. Selbst Freunde lieà er fallen, wenn sie ihm zu mächtig wurden.
Das bekam auch der Mann zu spüren, der Hitler gefördert hatte wie kaum ein anderer: der Hauptmann a. D. Ernst Röhm, ein vieldekorierter Haudegen, Urtyp des Landknechts, der die Niederlage von 1918 nicht verwinden konnte, Organisator und Waffenlieferant jener bayrischen Wehrverbände, die den Krieg gegen die Alliierten wieder aufnehmen sollten.
Röhm hatte den damaligen V-Mann Hitler 1919 bei der »Eisernen Faust«, einem nationalistischen Zirkel in München, kennengelernt und ihm 1921 eine Truppe geschaffen, die sich Sturmabteilung (SA) nannte. Sie hatte in den Augen des NS-Führers jedoch einen argen Geburtsfehler gehabt: Die SA hörte nur auf das Kommando von Röhms Offizieren, Hitler hatte kaum Einfluà auf die Truppe.
In der Landsberger Zelle schwor sich Hitler, er werde sich nie wieder von den Militärs gängeln lassen. Der Nur-Soldat Röhm aber ahnte nichts von Hitlers Meinungswandel. Er gründete, aus Landsberg früher entlassen als Hitler, aus der Erbmasse der inzwischen verbotenen SA eine neue Wehrorganisation ("Frontbann"), die rasch auf 30 000 Mann anwuchs.
»Eine neue Wehrbewegung gedenkt Herr Hitler nicht aufzuziehen.«
Hitler sah diese Entwicklung mit Unbehagen, zumal Röhm nicht müde wurde, Unabhängigkeit des Frontbanns von der Partei zu fordern. Gleichwohl war Röhms Autorität so groÃ, daà Hitler ihn zum Führer der verbotenen SA ernennen muÃte.
Allmählich durchschaute selbst Röhm das Doppelspiel seines Freundes. Ende Februar 1925 lud er Hitler zu einer Führerbesprechung des Frontbanns im Schloà des Grafen von Helldorf in Wolmirstedt bei Magdeburg ein; Röhms Wagen sollte Hitler in Bayreuth abholen -- der Chef kam nicht.
Hitler entzog sich seinem SA-Führer, bis Röhm ihn am 16. April in dessen Münchner Wohnung stellte. Röhm legte Hitler ein Papier vor, in dem er formuliert hatte:
Ein Weiterlavieren mache ich nicht mehr mit. SchlieÃlich ist die ganze Frage eine reine Vertrauenafrage. Es handelt sich darum, ob Du das Vertrauen hast, daà ich den Verband in Deinem Sinne führe oder nicht, dann ist mein sofortiger Rücktritt selbstverständlich.
Röhm verlangte abermals, die SA müsse von der Partei unabhängig sein, Hitler hingegen forderte die bedingungslose Integration der SA in die NSDAP. Am nächsten Tag schrieb Röhm an Hitler einen Brief und trat zurück.
Als Hitler nicht reagierte, setzte Röhm am 30. April einen neuen Brief auf:
Da ich auf mein Schreiben, in dem ich den Auftrag zur Führung der SA in Deine Hand zurücklegte, keinen Bescheid erhielt, glaube ich Deines Einverständnisses sicher zu sein, wenn ich die beiliegende (Rücktritts-)Erklärung der nationalsozialistischen Presse zur Veröffentlichung übergebe. Ich benütze die Gelegenheit, in Erinnerung an schöne und schwere Stunden, die wir mitsammen verlebt haben, Dir für Deine Kameradschaft herzlich zu danken und Dich zu bitten, mir Deine persönliche Freundschaft nicht zu entziehen.
Doch Hitler ignorierte den Appell des Freundes. Statt eines persönlichen Wortes lieà er einen Monat später durch sein Sekretariat mitteilen: »Eine neue Wehrbewegung gedenkt Herr Hitler nicht aufzuziehen. Wenn er es seinerzeit tat, so nur auf Veranlassung der Herren, die ihn nachher im Stich lieÃen.«
Hitler hatte sich von einer störenden Fessel befreit, jetzt konnte er beginnen. sich eine Machtposition zu schaffen. Er nutzte das eine Jahr »provisorischer« Alleinführung, das ihm die Gründungsversammlung im Bürgerbräukeller am 27. Februar 1925 eingeräumt hatte.
Im ersten Stock »des Hauses 50 der Münchner SchellingstraÃe etablierte er im Juni eine »Reichsleitung der NSDAP«, in der festbesoldete Funktionäre den Kontakt zu allen NS-Gruppen in Bayern hielten. In kurzer Zeit entstand ein kleiner Mitarbeiterstab mit Büros, Sekretariaten und Archiven.
Sorgfältig wählte Hitler jeden neuen Gauleiter, jeden Kreis- oder Ortsgruppenleiter der Partei aus, stets darauf bedacht, ihn allein auf seine Person, auf Adolf Hitler, auszurichten. Auch über die Verwendung der Gelder verfügte er allein.
Eine Leibgarde wachte darüber, daà jeder Befehl Hitlers befolgt wurde. Er beauftragte seinen Chauffeur Julius Schreck, eine bewaffnete »Stabswache« zum Schutz der Parteiführer aufzustellen; ein paar Wochen später wurde sie in »Schutzstaffel« umbenannt, und daraus entstand allmählich die beklemmendste Kreation deutscher Organisationsgeschichte: die SS.
»Ich sagte mir damals«, erinnerte sich Hitler später, »daà ich eine Leibwache brauchte, die, wenn sie auch klein war, mir bedingungslos ergeben wäre und sogar gegen ihre eigenen Brüder marschieren würde. Lieber nur zwanzig Mann aus einer Stadt -- unter der Bedingung, daà man sich absolut
* Schwarz, Pfeffer von Salomon, Bouhler.
auf sie verlassen konnte -, als eine unzuverlässige Masse.«
Am 21. September 1925 schickte SS-Führer Schreck ein »Rundschreiben Nr. 1« ab, in dem er alle Ortsgruppen der NSDAP aufforderte, Schutzstaffeln zu gründen. Sie sollten kleine, schlagkräftige Elitegruppen sein, jeweils ein Führer und zehn Mann stark. »Die Front gegen den Kapitalismus ist das Gebot der Stunde.«
Schrecks Ukas fand freilich in den NS-Ortsgruppen auÃerhalb Bayerns kein sonderliches Echo. Vor allem in Norddeutschland zögerten die Parteigenossen, sich der Münchner Führung vorbehaltlos zu unterstellen; dort sammelte sich ein bunter Haufen völkischer Zirkel, rechtsextremer Sozialisten und nationalistischer Sozialromantiker, die den Niedergang der Partei nach dem November-Putsch von 1923 überlebt hatten.
In Nord- und Westdeutschland traten Hitler Parteigenossen entgegen, die kaum Lust hatten, ihn als Parteichef anzuerkennen. Mehr noch: Sie praktizierten einen Nationalsozialismus, der in krassem Gegensatz zur Ideologie der Münchner Reichsleitung stand.
Wortführer dieses anderen Nationalsozialismus, der sich bewuÃt links und antikapitalistisch verstand, war der niederbayrische Beamten-Sohn, Apotheker und Ex-Oberleutnant Gregor Strasser, 1921 bis 1923 Gauleiter und SA-Führer von Niederbayern« und sein doktrinär-irrlichternder Bruder Otto, der nach Engagements für Freikorps und Sozialdemokraten zur NSDAP gefunden hatte, weil er den Sozialismus von der SPD-Führung verraten wähnte
Oie beiden Strasser geboten über eine Machtstellung, die Hitlers Position weit in den Schatten stellte. Praktisch kontrollierte Gregor Strasser. der nach Hitlers November-Putsch in den Norden übergesiedelt war, alle NS-Gruppen in Nord- und Westdeutschland. Gleichwohl hatte er sich bei der Neugründung der Partei Hitler unterstellt -- nominell.
Hitler hatte dafür einen hohen Preis zahlen müssen: Er räumte Strasser am 11. März 1925 »weitgehende Selbständigkeit« bei der Führung seiner NS-Organisation ein. Daraus war ein Gegensatz entstanden, der die Nationalsozialisten in zwei Lager teilte.
Denn anders als im agrarisch-provinziellen Bayern mit seinen völkischen Traditionen. lebte in den Industriegebieten des Westens und Nordens ein Mittelstand, der sich erbittert gegen Arbeiterschaft und GroÃbürgertum wehrte. Durch die Inflation von 1922/23 ihrer materiellen Basis beraubt, von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen bedroht, sahen sich Angestellte, Lehrer, Anwälte und Ãrzte einer Proletarisierung ausgeliefert, gegen die sie sich mit aller Macht sträubten.
Vor allem die jungen Akademiker, durch den Krieg in ihrer Berufsausbildung blockiert, an der Front von dem Gemeinschaftserlebnis des Soldaten geprägt, ersehnten einen nationalen Sozialismus, der den Haà befriedigte, mit dem sie aus dem Krieg zurückgekehrt waren: den HaÃ
gegen Plutokraten und Kriegsgewinnler, zu denen sie auch die nach der Niederlage von 1918 erstarkten marxistischen Arbeiterparteien rechneten.
Solchen Ressentiments gegen Kapitalismus und Arbeiterschaft kamen die beiden Strasser und ihr wendiger Gehilfe, der Elberfelder Gaugeschäftsführer Joseph Goebbels. mit einem Programm entgegen, das einen »deutschen Sozialismus« verhieÃ. Die Strassers proklamierten: »Die Front gegen den Kapitalismus ist das Gebot der Stunde.«
Sie begannen, das Programm umzudeuten, das Hitler einst verkündet hatte. obwohl es von ihm selber nicht mitformuliert worden war. Das 25-Punkte-Programm vom 24. Februar 1920, eine Mixtur nationalistischer und sozialistischer Forderungen, sah die Zurückgewinnung der deutschen Kolonien, den Kampf gegen den Bolschewismus, die Einziehung der Kriegsgewinne und eine Bodenreform vor.
Die Genossen im Norden aber strebten nun eine Erweiterung des Programms auf linke Art an. Goebbels forderte die Errichtung einer »sozialistischen Diktatur« und entdeckte eine Verwandtschaft zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, Gregor Strasser propagierte ein Bündnis mit der Sowjet-Union und einen antikolonialistischen »Bund der unterdrückten Nationen«.
Je mehr junge Mittelständler in die norddeutsche Parteiorganisation eintraten, desto stärker betonte die Strasser-Fraktion ihre Distanz zur Hitler-Führung. Goebbels sah bereits in der Partei einen »Westblock« entstehen, der einen »Gegenpol gegen die verderbliche Münchner Richtung« bilden werde.
Schon kam der Gedanke auf, Gregor Strasser zum Führer der Gesamtpartei zu erheben und Hitler auf den Posten eines Ehrenvorsitzenden abzuschieben. Am 10. September 1925 formierte sich in Hagen eine »Arbeitsgemeinschaft der nord- und westdeutschen Gaue der NSDAP« unter Strassers Führung. Später beschloà sie eine Neuformulierung des Parteiprogramms -- eine deutliche Herausforderung an Hitler.
Goebbels notierte sich denn auch: »Hitler ist wütend.« Er hatte allen Anlaà dazu: Zwei Monate später revoltierte die Arbeitsgemeinschaft offen gegen die Münchner Parteiführung. Man lasse sich, erklärten die Parteigenossen, von dem »Papst in München« nichts mehr vorschreiben.
Ãrgerlich schickte Hitler seinen Vertrauensmann Feder nach Norddeutschland. um die Parteigenossen wieder auf Vordermann zu bringen. Doch Strasser verbat sich jede Einmischung. Goebbels triumphierte: »Der Tag ist nicht mehr fern, wo wir alles, alles sagen werden. Dann werden sie erschrecken vor dem Radikalismus unserer Forderungen.«
Noch zögerte Strasser jedoch, mit Hitler völlig zu brechen. Er fühlte sich in der Rolle des Verschwörers nicht wohl und hoffte, Hitler werde sich von seinen konservativen Bundesgenossen in Bayern lösen und auf die Seite der NS-Sozialisten überschwenken. Hitler aber nutzte Strassers Zögern zu einem Gegenschlag. Er berief zum 14. Februar 1926 eine Führertagung der Partei nach Bamberg ein, auf der die Differenzen besprochen werden sollten. Eines Erfolges konnte er sich sicher sein: Nicht alle norddeutschen Gauleiter waren geladen, ihre süddeutschen Gegenspieler stellten die Mehrheit.
Ohne sich auf eine Diskussion des Strasser-Programms einzulassen, setzte sich Hitler durch. Die Mehrheit der Parteiführer lehnte eine Ostorientierung und jedes Abgehen vom alten Parteiprogramm ab. Nicht ohne Hohn konstatierte Hitlers »Völkischer Beobachter« die »völlige Einmütigkeit der Auffassungen«.
Wie benommen notierte sich Goebbels in dem ihm eigenen ekstatischen Stil:
Hitler redet. 2 Stunden. Ich bin wie geschlagen. Welch ein Hitler? Ein Reaktionär? Fabelhaft ungeschickt und unsicher. Russische Frage: vollkommen daneben. Italien und England naturgegebene Bundesgenossen. Grauenhaft! Unsere Aufgabe ist die Zertrümmerung des Bolschewismus. Bolschewismus ist jüdische Mache! Wir müssen RuÃland beerben! 180 Millionen!!! Frage des Privateigentums nicht erschüttern! Programm genügt! Zufrieden damit. Feder nickt. Ley nickt. Streicher nickt. Esser nickt. Kurze Diskussion. Strasser spricht. Stockend, zitternd, ungeschickt, der gute, ehrliche Strasser, ach Gott, wie wenig sind wir diesen Schweinen da unten gewachsen!
Hitlers Sieg gründete sich freilich nicht nur auf raffinierte Konferenz-Taktik. Vor allem war es die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, die fast jeden Parteigenossen in Bann schlug. Hitler verstand wie kein anderer Nationalsozialist, Menschen zu überzeugen. Niemand erlebte das deutlicher als der Hitler-Kritiker Goebbeles. Schon ein paar Wochen später schrieb er in sein Tagebuch: »Ich erkenne ihn bedingungslos als Führer an. Ich beuge mich dem gröÃeren Mann! Dem politischen Genie.« Und weitere Tage danach: »Man muà ihn als Mensch schon gern haben, und dazu diese überragende geistige Persönlichkeit. Man lernt nie bei diesem eigenwilligen Kopf aus.«
Die Brüder Strasser gründen einen linken Zeitungsverlag.
Hitler triumphierte; Gregor Strasser erklärte sich bereit, die Exemplare des in Hannover erarbeiteten Gegenprogramms zu vernichten. Doch das genügte Hitler noch nicht, im Mai lieà er seine Münchner Anhänger erneut antreten und sich endgültig zum unumschränkten Führer der NSDAP küren.
Eine Münchner Generalmitgliederversammlung der NSDAP beschloÃ, die Partei nach dem Führerprinzip umzugestalten. Träger der Partei sollte von nun an allein der Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterverein München sein, die alte Stammorganisation der NSDAP; ihre Führung wurde zugleich Reichsleitung der Gesamtpartei und Leitung der Ortsgruppe München.
Da der Vorstand der Partei nur der Generalmitgliederversammlung Rechenschaft ablegen muÃte, die Versammlung aber nie wieder tagte, gebot allein Hitler über die Partei. Er hatte die Basis erlangt, auf der er sich allmählich zur einsamen, nur sich selbst verantwortlichen Erlöser-Gestalt der Partei. emporstilisieren konnte.
Adolf Hitler beeilte sich, seine Machtstellung dem ganzen Parteivolk in Nord und Süd vorzuführen. Im Juli rief er alle Parteigenossen zu einem Parteitag nach Weimar, wo ihm Thüringens rechtsstehende Regierung eine Demonstration genehmigt hatte.
5000 Nationalsozialisten marschierten an ihrem Führer vorbei, der zum erstenmal seine Männer nach italienischer Faschisten-Art mit schräg erhobenem Arm grüÃte. Und die Parteigenossen trugen jenes Braunhemd, das durch einen wunderlichen Zufall zum Parteikleid geworden war: Dem nach Ãsterreich geflohenen SA-Führer RoÃbach war ein ursprünglich für die Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika bestimmter Posten brauner Hemden angeboten worden, die er für die Partei erwarb.
Doch auch diese erste Machtkundgebung der Braunen konnte Hitler nicht darüber hinwegtäuschen, daà er noch immer nicht alleiniger Herr der Partei war. Das
Strasser-Lager hatte sich rasch von der Bamberger Niederlage erholt; die Position der beiden Strasser in Norddeutschland war unerschüttert, ja, sie hatten begonnen, sich ·in Berlin eine neue Domäne zu schaffen.
Im März 1926 gründeten Gregor und Otto Strasser mit eigenem Kapital in Berlin ein Presse-Unternehmen, den Kampf-Verlag, mit dessen Zeitungen sie unter der Arbeiterschaft warben. Sie erweiterten die Basis der noch immer kleinen NS-Partei nach links; vor allem die sozialistischen Thesen von Otto Strassers »Berliner Arbeiterzeitung« (Slogan: »Einziges dem Leihkapital nicht dienstbares Arbeiterorgan Berlins") lockten manchen Werktätigen an.
Hitlers SA -- permanenter Wahlkampf mit terroristischen Mitteln.
Zugleich bauten Strasser-Anhänger ihre Positionen in Norddeutschland aus. Auch im Süden gewannen sie neue Freunde. bis in die engste Umgebung Hitlers reichte ihr EinfluÃ; selbst Hitler-Sekretär Rudolf Heà und der bald zum SS-Chef aufsteigende Heinrich Himmler hörten auf Strasser.
Hitler muÃte vorsichtig taktieren, um nicht unversehens in die Isolierung zu geraten. Er hofierte Strassers Anhänger, wo immer er konnte; keinen Augenblick lieà er sich anmerken, wie sehr er die abweichenden Meinungen des Strasser-Lagers übelnahm.
Hitler eilte sofort mit einem Blumenstrauà herbei, als Gregor Strasser nach einem Autounfall im Krankenhaus lag, und im Oktober 1926 ernannte er den Rivalen zum Propagandaleiter der Partei. Otto Strasser versicherte er seiner Sympathie, während er nichts unversucht lieÃ, den Strasser-Konfidenten Goebbels auf seine Seite zu ziehen.
Der damals 29jährige Goebbels lieà sich nur allzu gern von Hitler als Gauleiter nach Berlin entsenden -- zur Beobachtung der Brüder Strasser. Eine Einladung zum Obersalzberg im Sommer bekehrte ihn vollends zum Hitler-Paladin. Goebbels-Notiz vom 26. Juli 1926:
Wir steigen ab. Er geht mit mir allein. Und erzählt mir, wie ein Vater seinem Kinde erzählt. Vom Felde. Und immer mit groÃen Zügen das Leben darstellend. Der Meister des Lebens. Abschied vom Chef. Hab Dank? Hab Dank! Aus dem Strasser-Lager holte sich Hitler auch den Mann, der ihm endlich das Instrument neu schaffen sollte, mit dem er seine Machtbasis nach auÃen und innen entscheidend erweitern konnte: die SA. Der ehemalige Freikorpsführer und Hauptmann a. D. Franz Pfeffer von Salomon baute ab August 1926 eine Parteimiliz auf, wie sie Deutschland noch nie gekannt hatte.
In der SA sah Hitler eine Organisation, die politische Ideen in Kampfkraft umsetzen sollte; die Marschkolonnen der Sturmabteilung waren dazu ausersehen, in »einer Art permanenten Wahlkampfes mit terroristischen Mitteln« (so der Historiker Wolfgang Sauer) den Behauptungswillen des demokratischen Gegners zu lähmen.
Hitler und Pfeffer glaubten an den massenpsychologischen Zwang, der von dem Gleichklang dröhnender Marschschritte und dem roboterhaften Vorrücken disziplinierter Vierer-Reihen ausging. Der Marsch-Stratege Pfeffer kannte seine autoritätsgläubige Generation: »Die innere Kraft der Sache läÃt den Deutschen gefühlsmäÃig auf deren Richtigkeit schlieÃen. Wo ganze Scharen planmäÃig Leib, Leben, Existenz für eine Sache einsetzen, da muà die Sache groà und wahr« sein.«
Hitler: »Boxen und Jiu-Jitsu sind mir wichtiger als SchieÃen.«
Pfeffer durchschaute freilich nicht, daà Hitler mit der Neugründung der SA noch einen partei-internen Nebenzweck verfolgte. Die SA sollte ein Gegengewicht zu der noch weitgehend vom Strasser-Kreis beherrschten Parteiorganisation bilden, sie war als Konkurrenz der Apparatschiks eingeplant.
Dieser Nebenzweck lieà sich jedoch nur erreichen, wenn Hitler die SA fest in seiner Hand behielt. Er, der zugleich die SS als Rivalin der SA immer stärker förderte, vergaà keinen Augenblick, daà einst die militärischen Herren der Röhmschen SA einem fremden, nicht seinem Willen gehorcht hatten.
Hitler verbot deshalb jede Militärspielerei in der SA, er wollte ehemalige Offiziere von der Parteimiliz weitgehend fernhalten. Dem SA-Chef Pfeffer schärfte er in einem Brief am 1. November 1926 ein:
Die Ausbildung der SA hat nicht nach militärischen Gesichtspunkten, sondern nach parteizweckmäÃigen zu erfolgen. Soweit die Mitglieder dabei körperlich zu ertüchtigen sind, darf der Hauptwert nicht auf militärisches Exerzieren, als vielmehr auf sportliche Betätigung gelegt werden. Boxen und Jiu-Jitsu sind mir immer als wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe SchieÃausbildung. Die organisatorische Formung der SA sowie ihre Bekleidung und Ausrüstung ist sinngemäà nicht nach den Vorbildern der alten Armee, sondern nach einer durch ihre Aufgabe bestimmten ZweckmäÃigkeit vorzunehmen.
Doch just das, was Hitler verhindern wollte, schwebte dem alten Berufssoldaten Pfeffer vor: die Schaffung einer militärähnlichen Truppe. Da er als »Oberster SA-Führer« (OSAF) weitgehende Selbständigkeit besaà -- er muÃte zwar die Weisungen Hitlers ausfuhren, durfte aber die SA-Organisation weitgehend allein aufbauen -, konnte sich Pfeffer sein eigenes Heer aufstellen.
Prompt zog er ehemalige Offiziere an sich, die das SA-Heer im alten Geist drillten. 1928 schuf er sieben Oberführer-Bereiche, an deren Spitze ausschlieÃlich Ex-Offiziere berufen wurden, Die Militärspielerei der alten KommiÃköpfe nahm wunderliche Formen an.
Bis in das kleinste Detail wurde das Militär kopiert: »Rondeoffiziere« übten den Kontrolldienst in den SA-Stürmen aus, die SA-Dienstvorschriften orientierten sich an den Heeres-Reglements, die SA-Standarten führten die Nummern früherer Regimenter der wilhelminischen Armee.
»Mitbestimmung der Arbeiter -- das ist ja Marxismus.«
MiÃtrauisch beobachtete Hitler die Entwicklung in der SA. Er lieà jedoch den Militär-Enthusiasten Pfeffer gewähren. solange die SA zahlenmäÃig klein blieb und ihre propagandistischen Aufgaben erfüllte; er zog sie immer stärker heran, seit alle deutschen Landesregierungen das Redeverbot gegen Hitler aufgehoben hatten, weil ihnen der nur noch legal agierende NS-Führer allzu ungefährlich erschien.
Der Ausbruch der Wirtschaftskrise im Herbst 1929 aber veränderte die Szene: Immer mehr Arbeitslose strömten in die SA, die braune Miliz schwoll explosiv an. 1930 schwankten ihre Mitgliederzahlen bereits zwischen 60 000 und 100 000.
Die Expansion steigerte das SelbstbewuÃtsein der Sturmabteilungen; ihre Führer zeigten sich zusehends weniger bereit, die Befehle der Parteiführung zu befolgen. Vor allem in Berlin machte sich Ungehorsam breit: Dort rückten. im Schatten des sozialen Elends und wachsender Kritik an dem angeblich bürgerlich gewordenen Hitler, das Strasser-Lager und die SA-Führer einander näher -- selbst Goebbels begann zu schwanken.
Die Nachrichten aus Berlin trafen Hitler im ungünstigen Augenblick. Zum erstenmal sah er eine Chance, die jahrelange Isolierung der Partei zu durchbrechen. Deutschland wurde in den Strudel der Weltwirtschaftskrise gerissen, in dem das verhaÃte Weimarer »System« unterzugehen drohte; jetzt kam zutage, was in den »goldenen« Jahren zuvor mühsam überkleistert worden war: die Staatsverdrossenheit der Deutschen.
Schon hatten Vertreter des unsicher gewordenen GroÃkapitals erste Kontakte zu Hitler angeknüpft, in dem sie einen Bändiger der sozialen Unruhe witterten. Hitler sah die Gelegenheit, sich auf den Schultern der Konservativen und Reaktionäre eines Tages in die Berliner Reichskanzlei tragen zu lassen.
Der sich allmählich abzeichnende Pakt zwischen Hitler und den konservativen Mächten in Politik und Gesellschaft aber war gefährdet, wenn sich die sozialistischen Strömungen in der NSDAP durchsetzten. Hitler beeilte sich, die Partei-Linke auszuschalten.
Noch ehe sich in Berlin eine Koalition zwischen Strasser-Leuten und SA-Männern formieren konnte, trat Hitler das glimmende Feuer aus. Am 21. Mai 1930 erschien er überraschend in Berlin und nahm Quartier im Hotel »Sanssouci«. Dann forderte er Otto Strasser zu einem Rededuell heraus, den Mann, der maÃgeblich die sozialistischen Thesen der NS-Linken formuliert hatte.
Hitler lud Strasser ins »Sanssouci« ein und verwickelte ihn in Gegenwart von dessen Bruder Gregor, der sich als Reichsorganisationsleiter der NSDAP längst Hitler angepaÃt hatte, in einen Disput über die Ziele der Partei. Bei dem Stichwort »Sozialismus« prallten Hitler und Otto Strasser unversöhnlich aufeinander.
Strasser erklärte, allein dem Sozialismus gehöre die Zukunft; schon das NS-Programm von 1920, wie reformbedürftig es auch immer sei, ziele auf eine sozialistische Gesellschaft.
Darauf Hitler: »Der Ausdruck Sozialismus ist an sich schlecht. Aber vor allem heiÃt er nicht, daà die Betriebe sozialisiert werden müssen, sondern daà sie sozialisiert werden können, nämlich wenn sie gegen das Interesse der Nation verstoÃen. Solange sie das nicht tun, wäre es einfach ein Verbrechen, die Wirtschaft zu zerstören.«
Strasser wandte ein, das alles stehe nicht im Parteiprogramm. Hitler wich aus: Der Korporativstaat des italienischen Faschismus zeige, wie man es machen müsse -- Verantwortung nach oben, Herr nach unten.
Strasser: »Also Herr im Haus? Hitler: »Dieses System ist durchaus richtig, und es kann gar kein anderes geben. Mitbestimmung der Arbeiter -- das ist ja eben Marxismus, während ich nur dem von einer höheren Schicht geleiteten Staat das Recht dieser EinfluÃnahme gebe.«
Immer heftiger redeten die beiden aufeinander ein, immer lauter wurde der Dialog. Hitler: »Wollen Sie leugnen, daà ich der Schöpfer des Nationalsozialismus bin?« Strasser wollte: Hitler sei nur der Träger einer Idee, des Sozialismus, dessen Stunde komme. Hitler: »Das ist reiner Marxismus.«
Hitler fuhr nach München zurück und lieà wochenlang nichts von sich hören. Einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, Strasser den lästigen Kampf-Verlag für 81 000 Mark abzukaufen und ihn selber zum Reichspressechef zu ernennen. Doch dann faÃte er einen anderen EntschluÃ: Strasser muÃte aus der Partei hinaus.
Am 30. Juni diktierte Hitler einen Brief an Goebbels:
Seit Monaten verfolge ich als verantwortlicher Leiter der NSDAP Versuche, in die Reihen der Bewegung Uneinigkeit, Verwirrung und Disziplinlosigkeit hineinzutragen. Unter der Maske, für den Sozialismus kämpfen zu wollen, wird eine Politik zu vertreten versucht, die vollkommen der Politik unserer jüdisch-liberal-marxistischen Gegner entspricht, Ich halte es nunmehr für notwendig, diese destruktiven Elemente rücksichtslos und ausnahmslos aus der Partei hinauszuwerfen. Ich habe Sie, lieber Herr Doktor Goebbels, vor Jahren auf den schwersten Platz des Reiches gestellt. Ich muà Sie nun heute bitten, in Verfolgung dieser einst gestellten Aufgabe die rücksichtslose Säuberung der Partei von allen jenen Elementen in Berlin durchzuführen. Ich habe den Reichs-Untersuchungs-Ausschuà angewiesen, Sie in dieser Aufgabe mit allen Mitteln zu unterstützen. Greifen Sie rücksichtslos und scharf zu.
Goebbels agierte, wie ihm befohlen worden war. Er entfesselte eine Kampagne gegen die »Elemente der Dekomposition« in der Berliner Parteiorganisation und verleumdete Otto Strasser so übel, daà der es vorzog, aus der Partei auszuscheiden. Am 4. Juli 1930 verkündete eine Schlagzeile der Strasser-Presse einen scheinbar historischen Wendepunkt: »Die Sozialisten verlassen die NSDAP.«
Hitler glaubte, die Berliner Opposition gelähmt zu haben. Er irrte. An die Stelle Otto Strassers trat der Berliner SA-Führer Walter Stennes, der den Plan faÃte, Hitler als Parteichef zu entmachten.
Der Widerstand von Stennes hatte organisatorische Gründe: Die Stellungslosen strömten, von radikalen Argumenten und den Arbeitslosenküchen der SA angelockt, in die Sturmabteilung und zehrten allmählich deren Mittel auf. Die SA-Führer schrien nach mehr Geld, weil sie die neuen Mitglieder nicht wieder verlieren wollten, doch die Parteiführung hielt weitere Subventionen zurück.
Die Berliner SA streikt gegen die Parteiführung.
Die Knauserigkeit der Reichsleitung lieà in der Berliner SA den Verdacht aufkeimen, Hitler wolle die SA bewuÃt kleinhalten, schlimmer noch: Die SA sei dem nach Macht und Achtbarkeit drängenden Parteichef ein Hindernis.
Eine zündende Parole kam auf: »Adolf verrät uns Proletarier!« Oppositionelle SA-Männer druckten anonyme Pamphlete gegen ihren Führer: »Wir schieben ja so gern Kohldampf, damit es unseren lieben 'Führern' mit ihren 2000 bis 5000 Mk. Monatseinkommen recht wohl ergebe. Hocherfreut waren wir auch, als wir hörten, daà sich unser Adolf Hitler auf der Berliner Automobilausstellung einen neuen groÃen Mercedeswagen für Rm. 40 000 gekauft hat.«
Zum Wortführer solcher MiÃstimmung machte sich Stennes. Da der SA im bevorstehenden Wahlkampf (im September 1930 sollte ein
neuer Reichstag gewählt werden) eine Schlüsselrolle zufiel, stellte Stennes harte Forderungen an die Parteiführung:
* Zulassung von SA-Führern als Kandidaten für Reichstag und Länderparlamente,
* gröÃerer politischer Einfluà der SA in der Parteiorganisation,
* Bezahlung des bislang ehrenamtlichen Saalschutzdienstes der SA bei NS-Kundgebungen.
Eine SA-Delegation reiste nach München, doch Hitler lieà sich verleugnen. Daraufhin trat die Berliner SA in den Streik: Ihre Führer »legten alle Ãmter nieder. kein SA-Mann schützte mehr Redner der Partei.
Als Goebbels die SS zu Hilfe rief. kam es zu Schlägereien zwischen den Parteigenossen. In der Nacht des 29. August überfielen »Stennesen« die SS-Wachen in der Berliner Gauleitung, knüppelten die SS-Männer nieder und zerschlugen das Mobiliar. Goebbels reiste sofort nach München, seinem Führer die Katastrophe zu melden.
Hitler war einem Nervenzusammenbruch nahe, doch er raffte sich wieder auf. Einen Tag später stand er vor Stennes und beschwor ihn, die Partei nicht zu verlassen. Von einem Lokal zum anderen zog Hitler und drängte die SA-Männer, ihm weiterhin zu vertrauen. Er versprach, die SA-Forderungen bald zu erfüllen. Am Abend des 1. September 1930 feierte man im Berliner
Kriegervereinshaus Versöhnung »Bemerkenswert an der ganzen Angelegenheit«, notierte ein V- Mann der Münchner Polizeidirektion, »bleibt nur, daà es Hitler
verhältnismäÃig schnell gelungen ist, die damals sehr um sich greifenden MiÃstimmigkeiten innerhalb der SA zu beseitigen.« Friedlich gingen die Kontrahenten auseinander.
Kaum aber war Hitler wieder in München. da rià er die Initiative an sich. Er setzte den mit Stennes
sympathisierenden OSAF Pfeffer ab und proklamierte sich selber zum Obersten SA- Führer. Ãberdies muÃte jeder SA-Mann ewige, blinde Treue dem Mann geloben, der von nun an den Anspruch erhob. er allein verkörpere den Willen der Partei.
Am 3. September lieà er zusätzlich alle Oberführer der SA wissen, sie hätten »ein unbedingtes Treuegelöbnis der Person des Partei- und Obersten SA-Führers Adolf Hitler« abzulegen. Hitler hatte die Alleinherrschaft in der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei angetreten.
Bald muÃte Hitler jedoch erkennen, daà er allein nicht in der Lage war, das ungelenke Massenheer der SA zu dirigieren. Da erinnerte er sich an das Wort eines Freundes, den er einst hatte fallenlassen -- Ernst Röhm: »Du brauchst mir bloà ausrichten zu lassen: An dem und dem Tag um sechs Uhr morgens mit der Kompanie am Siegestor! -- dann stehe ich auch dort.«
Die Homosexuellen-Affäre Röhm erschüttert die Partei.
Hitler ernannte Röhm zum Stabschef der SA und gab ihm den Auftrag, das braune Massenheer unter strenge Aufsicht zu nehmen. Röhm bekämpfte denn auch alle Selbständigkeitsregungen unter den SA-Führern und brachte damit ungewollt all jene gegen Hitler auf, die noch nicht ganz vom Führerkult umnebelt waren.
»Es unterliegt gar keinem Zweifel«, zürnte der für Süddeutschland zuständige SA-Führer Schneidhuber am 19. September 1930 in einem Brief an Röhm, »daà das Instrument der SA unserem Führer fremd geworden ist. Es war seit langem vorauszusehen, daà einmal ein Schrei nach dem Führer und seinem Dank in Form von Verständnis für die SA ausbrechen würde.« Und Stennes formulierte am 28. Februar 1931: »Niemand regiert auf die Dauer ungestraft gegen die Ansicht des besten Bestandteiles des Volkes -- in diesem Fall gegen die Stimmung der SA.«
Stennes war entschlossen, den Sturz Hitlers zu wagen. Eine Hiobsbotschaft des Berliner SS-Führers Kurt Daluege lief in der Münchner Parteizentrale ein: Ich bekomme soeben am 1. April morgens 1/2 4 Uhr die fernmündliche Mitteilung, daà in der Nacht von zwölf Uhr bis drei Uhr eine streng vertrauliche Sitzung der Führer des Gausturmes Berlin unter Vorsitz des Adjutanten von Gruppenführer Ost Jahn stattgefunden hat. Es wurde von Jahn mitgeteilt, daà ab 1. April mittags in einer Sitzung in Weimar der Gruppenführer Ost Stennes durch unseren Führer Adolf Hitler abgesetzt werden solle. Es wurde kein Zweifel gelassen, daà dem Befehl Hitlers nicht Folge geleistet wird. Die anwesenden Führer erklärten sich im Laufe der Sitzung für Stennes und gegen Hitler!
Die Stennes-Anhänger besetzten die Räume der Berliner Gauleitung. in wenigen Stunden verbreitete sich die Revolte über Nord- und Ostdeutschland. Bald brach Hitlers SA-Imperium jenseits der Elbe völlig zusammen; bis herunter zum Sturmführer schlossen sich die meisten SA-Führer Brandenburgs, Schlesiens, Pommerns und Mecklenburgs dem Aufstand gegen Hitler an.
Doch der Elan des Stennes-Putsches lieà rasch nach, die Revolte erlahmte, sobald sich die SA-Kassen geleert hatten. Stennes gründete eine eigene »Kampforganisation«. die jedoch nicht genügend Anhänger fand. Mühsam begann Röhm. den Trümmerhaufen zu ordnen.
Hitler aber hatte allen AnlaÃ, sich noch enger an seinen Freund Röhm anzuschlieÃen. Nur der alte Haudegen schien ihm garantieren zu können. daà die SA nicht noch weiter zerfiel und die Partei damit ihres damals noch einzigen Machtinstrumentes beraubt würde.
Doch gerade die Freundschaft zu Röhm führte Hitler
in eine neue Vertrauenskrise, denn der Stabschef der SA hatte eine Schwäche: Er war Homosexueller. Röhm hatte daraus nie ein Kehl gemacht und stets offen bekannt, »daà ich nicht zu den Braven gehöre«. An einen Freund schrieb er am 25. Februar 1929:
Lieber Dr. Heimsoth!
Ersichtlich haben Sie eine unerhörte Ãbung in der Fixierung der Konstellation. Könnten Sie sich nicht auch einmal der meinen annehmen? Ich bin am 28. November 1887 morgens 1 Uhr in München geboren. Dann wüÃte ich vielleicht auch einmal, wie ich mit mir eigentlich daran bin, Ich bilde mir ein, gleichgeschlechtlich zu sein, habe dies aber richtig erst 1924 »entdeckt«. Ich kann mich vorher an eine Reihe auch gleichgeschlechtlicher Gefühle und Akte bis in meine Kindheit erinnern, habe aber such mit vielen Frauen verkehrt. Allerdings nie mit besonderem GenuÃ; auch drei Tripper habe ich mir erworben, was ich später als Strafe der Natur für widernatürlichen Verkehr ansah. Heute sind mir alle Frauen ein Greuel, insbesondere die, die mich mit ihrer Liebe verfolgen; und das sind leider eine ganze Anzahl. Also ich brenne auf eine Charakteristik durch Sie. Mit kameradschaftlichem Handschlag Ihr
Ernst Röhm.
Röhms Lust-Unternehmungen in der SA schockierten bald das nationalkonservative Bürgertum. Es wurde nur allzu rasch ruchbar, daà die homoerotischen Partner des Stabschefs in die höheren SA-Stellungen einsickerten, die nach der Stennes-Revolte vakant geworden waren.
Zudem waren auch niedere SA-Chargen vor dem Jagdfieber Röhms nicht sicher. Röhms Vertrauensmänner in der SA suchten ihrem Stabschef geeignete Partner, und wenn ein Röhm-Liebling Zeichen der Untreue verriet, knüppelten ihn SA-Rollkommandos nieder. Hauptlieferant war ein Röhm-Favorit namens Peter Granninger, der sich regelmäÃig vor der Münchner Gisela-Oberrealschule postierte, Interessenten anwarb und testete, um sie schlieÃlich Röhm zuzuführen. Hitler stellte sich taub, als ihn die ersten Klagen über Röhms Treiben erreichten. Immer lauter wurde die Entfernung Röhms verlangt. NS-Anhänger von Radowitz am 18. Juli 1932: Es habe in seinen Kreisen »Befremden erregt, daà Herr Röhm noch in der nächsten Umgebung Hitlers sei, obwohl er in der weitesten Ãffentlichkeit mit dem Verdacht gewisser sittlicher Verfehlungen belastet sei«. Die Bezirksleitung Braunau der NSDAP mahnte am 6. Oktober 1931, »daà eine Bereinigung dieser Angelegenheit für die NSDAP unbedingt notwendig ist«. Selbst Martin Bormann, Leiter der NS-Hilfskasse, konnte den Anblick Röhms nicht länger ertragen. Am 5. Oktober 1932 schrieb er an Hitler-Sekretär HeÃ:
Wenn der Führer diesen Mann noch hält, so verstehe auch ich ihn, wie schon zahllose andere, nicht mehr und das ist auch nicht mehr zu verstehen. Es ist sicher, daà Unzählige das Vertrauen zum Führer verlieren werden, wenn der Führer einen Mann (wie Röhm) weiterhin hält. Wenn ich oder andere Pg politische Entscheidungen nicht verstehen, nun gut, wir kennen die Voraussetzungen und näheren Umstände nicht, der Führer ist der Führer, er wirds schon recht machen. Hier aber handelt es sich um den schweren Schaden, den die Bewegung durch das Verhalten eines ihrer Angehörigen erleidet. Doch Hitler mochte nicht hören, er verbat sich jede Kritik an Röhm. Ein Erlaà Hitlers wies alle Ankläger ab:
Der Obersten SA-Führung liegen eine Reihe von Meldungen und Anzeigen vor, die sich gegen SA-Führer und -Männer richten und vor allem Angriffe wegen des Privatlebens dieser Persönlichkeit enthalten. Die Prüfung ergibt meist, daà es sich um Dinge handelt, die gänzlich auÃerhalb des Rahmens des SA-Dienstes liegen. Den obersten und oberen SA-Führern wird zugemutet, über diese Dinge, die rein auf privatem Gebiet liegen, Entscheidungen zu treffen. Ich weise diese Zumutung grundsätzlich und in aller Schärfe zurück. Die SA ist keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern, sondern ein Verband rauher Kämpfer.
Adolf Hitler hielt zu Röhm, weil er ihn noch brauchte -- für den letzten Akt nationalsozialistischer Machteroberung, der jetzt begann. Im nächsten Heft
Thyssen beschafft einen Kredit für das »Braune Haus« -- Das Alltagsleben des Parteiführers -- Hitler nutzt die Agonie der Weimarer Republik: der 30. Januar 1933