Gewalt gegen Gewalt

Die PKK und ihr Führer Abdullah Öcalan.

Birgit Cerha
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ÜBER DEN HÜGELN Südostanatoliens steigt schwarzer Rauch auf. Nachts erhellt sich der Himmel im Feuerschein explodierender Geschosse. Augenzeugen berichten, wie türkische Sicherheitskräfte grosse Waldzonen abbrennen. Dann nehmen sie mit Haubitzen die Unterschlüpfe unter Beschuss, in denen sich die Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei, Partia Karkaren Kurdistan, (PKK), verschanzt haben. Das Ziel ist Vernichtung. Unzählige Dörfer - keiner weiss wie viele - wurden zwangsevakuiert, die Häuser samt Mobiliar und sonstigem Besitz niedergebrannt. Die Bewohner strömen nach Diyarbakir oder Batman, wo sie in den rasant wachsenden Elendsvierteln Zuflucht suchen, andere schlagen irgendwo ihre Zelte auf. Niemand kennt die Zahl der Todesopfer, die diese Offensive schon gefordert hat. Die Qualen der Zivilbevölkerung Südostanatoliens dringen nur in Bruchstücken in den Westen. Generalstabschef Dogan Güres droht: Wenn «die tierischen PKK-Terroristen» nicht bis zum Winter vernichtet seien, dann werde über die gesamte Türkei das Kriegsrecht verhängt.

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Nach dem Ende eines zweieinhalbmonatigen einseitigen Waffenstillstandes, den die PKK im März ausgerufen hatte, herrscht in Südostanatolien nackte Barbarei, blutiger als je zuvor. Und dabei verschliesst Ankara die Augen vor den Realitäten: Die PKK «liegt in den letzten Zügen», erklärte im Juni Innenminister Ismet Sezgin. Doch in Wahrheit lässt sie sich nicht unterkriegen. Und die PKK-Kämpfer zahlen Gleiches mit Gleichem heim. Sie stoppen Minibusse auf der Strasse und mähen die Passagiere mit Maschinengewehren nieder. Sie zünden Schulen an, entführen und ermorden Lehrer, weil diese als «Handlanger» des Staates die Kurdenkinder nicht in ihrer Muttersprache unterrichten.

Längst vergangen ist die leichte Brise eines kurdischen Frühlings. Präsident Özals Tod im April hat alle Ansätze einer neuen Politik gegenüber den Kurden abrupt beendet. Wieder zählen Razzien zum Alltag, werden Menschen bestraft, weil sie kurdische Lieder singen, kurdische Musik hören oder Bücher in kurdischer Sprache besitzen. Die Anzahl ungeklärter Morde an Journalisten, Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens in Südostanatolien ist in letzter Zeit stark gestiegen. Von oppositioneller Seite wird der Vorwurf erhoben, dahinter stehe die Kontraguerilla, eine parastaatliche Gruppierung, die nach dem Vorbild südamerikanischer Todesschwadronen gezielt Regimekritiker erledige.

In dieser Atmosphäre der Gewalt suchen immer mehr Kurden bei der PKK Hilfe und Zuflucht. General Mete Sayar, ehemals Militärkommandant von Sirnak, gestand jüngst ein: «Wo früher zwei Männer für die PKK kämpften, sind es heute fünf.» Die Zahl der professionellen Kämpfer der Gebirgseinheit, so die Bezeichnung für die Guerilla in offiziellen Schriften, wird auf 10 000 bis 15 000 geschätzt. Hinzu kommt eine rund 60 000 Mann starke Miliz. Ein Bericht an den Präsidenten rechnet mit 350 000 Personen, welche die PKK unterstützen oder mit ihr sympathisieren - etwa ein Fünftel aller Erwachsenen Südostanatoliens.

Abdullah Öcalan, der untersetzte, ehrgeizige Guerillachef, das älteste von sechs Kindern eines armen Bauern aus dem Dorf Ömerli in der südostanatolischen Provinz Urfa, lässt den Staat Atatürks erzittern. Solches hat er sich nicht träumen lassen, als er bei seinem ersten Besuch in Istanbul nach eigenen Worten verklärt auf die Statue des Republikgründers Kemal Atatürk blickte, nach dessen bis heute heiligem Gesetz es innerhalb der Grenzen der modernen Türkei nur Türken geben darf. Offizier in der türkischen Armee wollte Abdullah werden. Man wies ihn aber ab, weil er schon zu alt war. Von Kurden oder kurdischer Muttersprache wusste der Jüngling nicht viel. Bis heute spricht er im Alltag denn auch meist Türkisch.

1970 nahm Abdullahs Leben eine Wende, als er wegen Beteiligung an einer illegalen Studentendemonstration eine siebenmonatige Haftstrafe absass. Das Gefängnis wurde für ihn zur Schule linker Ideologien. Wenig später begann «Apo» (Onkel), wie ihn seine Freunde nennen, an der Universität Ankara Politische Wissenschaft zu studieren. «Er war unglaublich belesen im Vergleich mit uns», erinnerte sich ein Freund. Schon damals übte Öcalan auf seine Studienkollegen grossen Einfluss aus. Er habe aus Büchern über Marxismus und Sozialismus zitiert und sei ihr natürlicher Führer gewesen, erzählt Cemil Bayik, heute die Nummer zwei der PKK.

Erst 1973 schnitt Öcalan vor einer Gruppe kurdischer und türkischer Studenten erstmals das Problem der Minderheit an. Er erklärte ihre verzweifelte Situation in erster Linie mit der fortdauernden Unterentwicklung. Die Fakten sprachen ja auch für sich. Noch eineinhalb Jahrzehnte später hielt die CIA in einem Bericht fest, dass nur zehn Prozent der staatlichen Industrieinvestitionen und nur zwei Prozent aller kommerziellen Investitionen nach Südostanatolien flossen. Es gab nur wenige Spitäler und Schulen, und die Analphabetenrate unter den Kurden erreichte 80 Prozent.

1974 scharte «Apo» Öcalan junge Revolutionäre in der nach ihm benannten Studentengruppe Apocus um sich. Eine Mischung aus marxistisch-leninistischen Ideen und extremem kurdischem Nationalismus bildete ihr Programm. Als höchstes Ziel galt der Gruppe ein grosser kurdischer Staat, der alle Kurden der Türkei, des Iraks, Irans und Syriens vereinen sollte. Damit war die ideologische Basis für die PKK gelegt.

Zu den elf Gründungsmitgliedern von «Apocus» zählte Kesire Yildirim, lange Öcalans engste Vertraute und Ehefrau, bis sich die beiden vor allem wegen seiner Brutalitäten gegenüber Zivilisten überwarfen. 1988 gelang es Yildirim, aus dem Hausarrest in Libanon, in den Öcalan sie gezwungen hatte, nach Schweden zu fliehen.

Öcalan wollte die Geburt der PKK am 27. November 1978 den Türken in einer Weise verkünden, wie sie für die Organisation charakteristisch wurde: durch Mord. Celal Bucak, Lokalchef der Gerechtigkeitspartei und Feudalherr im Bezirk Siverek, sollte das Opfer sein. Das Attentat schlug fehl, doch andere Anschläge verhalfen Öcalans Partei rasch zum Ruf, sie sei die gewalttätigste und radikalste aller Kurdengruppen der Türkei. Sie rekrutierte ihre Mitglieder aus den Randschichten der Gesellschaft. Den armen, entwurzelten Dorf- und Kleinstadtjugendlichen bot Öcalan eine Ideologie und eine Fülle von Gelegenheiten für Aktion und Märtyrertum.

Die PKK verschaffte sich ihre Finanzen durch Überfälle auf Banken und Juweliergeschäfte. Das Grenzgebiet zum Irak, zu Iran und Syrien eignete sich zudem hervorragend für Waffen- und Rauschgifthandel. Es folgten turbulente Zeiten für Öcalan. 1979 flüchtete er und fand schliesslich in Syrien Unterschlupf, wohin ihm nach dem Militärputsch in Ankara 1980 auch die meisten der PKK-Führer folgten. Rund 2000 der unteren Kader der Organisation landeten im Gefängnis. Die Militärs glaubten damals, sie hätten der PKK den Todesstoss versetzt. Doch Öcalan organisierte die Gruppe im Exil neu. Mit seiner verschwommenen marxistischen Ideologie konnte er nur schwer in der Landbevölkerung Fuss fassen. Öcalan, der Mann, der nach eigenen Aussagen Waffen hasst, Gewalt gegen Unschuldige verabscheut und Vögel liebt, war fest davon überzeugt, dass nur Gewalt die Ketten des Verrats an den Kurden sprengen könne. Gewalt spürten zunächst aber vermeintliche Verräter in den eigenen Reihen. Rivalisierende Kurdengruppen wurden brutal ausgeschaltet, Dissidenten, Kritiker der PKK gnadenlos ermordet, in der Türkei ebenso wie im Ausland. Mit seinem autoritären Führungsstil verbreitete Öcalan nach Aussagen abgesprungener PKK-Kämpfer innerhalb der Organisation Angst und Schrecken. Er erhob schliesslich für sich und seine PKK den Anspruch auf Alleinvertretung der gesamten Kurdenbewegung, auch jener Kurden im Irak, die ihm lange Beistand geleistet hatten, sich schliesslich jedoch wegen der Brutalitäten gegen Zivilisten von ihm distanzierten. Öcalan liebte es, sich vor den seltenen journalistischen Besuchern grossspurig als der grosse, der einzige Führer aller Kurden zu präsentieren und den harten Drill seiner jugendlichen Kämpfer - unter ihnen auch zehnjährige Kinder - zur Schau zu stellen.

Bis August 1984 waren alle Vorbereitungen getroffen, alle Konflikte innerhalb der Partei gewaltsam gelöst. Der Kampf gegen den wahren Feind, die «türkische Kolonialmacht», konnte beginnen. Die PKK stützt sich dabei auf eine Drei-Punkte-Strategie:

? bis 1995: strategische Verteidigung, mit bewaffneter Propaganda, Attacken gegen Kollaborateure und Vorbereitung einer bewaffneten Bewegung;

? 1995 bis 2000: Aufbau eines Gleichgewichts der Kräfte, Schaffung befreiter Zonen; Allianz mit der radikalen türkischen Linken; Beeinträchtigung der Angriffsfähigkeit des Staates; Gründung neuer bewaffneter Truppen und grossangelegte Guerillaaktionen (laut den Aussagen Öcalans von Ende September hat diese Phase bereits begonnen).

? totale Offensive, die bis zum Jahr 2000 den Südosten der Türkei in einem Volksaufstand mit sich reisst.

Am 15. August 1984 eröffnete die PKK mit einer gut-koordinierten Attacke auf zwei südosttürkische Dörfer ihren Guerillakrieg. Eine Stunde lang hielten etwa je 40 Aufständische die Dörfer unter ihrer Kontrolle. Sie hatten auch medizinische Teams zur Betreuung der Bevölkerung bei sich. Die Kämpfer drangen von Syrien, und später verstärkt vom Nordirak aus, auf türkisches Gebiet vor und zogen sich nach einem Angriff rasch wieder über die Grenze zurück. Im Gegensatz zu den siebziger Jahren, als die PKK nur angebliche Kollaborateure des Staates attackierte, nahm sie sich nun auch Sicherheitskräfte und staatliche Institutionen als Ziele vor. Doch die Brutalität, mit der sie angebliche Verräter bestrafte und ganze Familien ermordete, versetzte die kurdische Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken. Hauptziel waren und sind die derzeit mindestens 44 000 Korucu (Dorfwächter), von Ankara gut bezahlte, für den Kampf gegen die PKK engagierte und bewaffnete kurdische Bauern. Der Staat schlägt ebenso brutal zurück.

Ende der achtziger Jahre gestand Öcalan ein, dass er sich mit seinem Terror gegen Zivilisten geirrt habe. Noch lieber freilich schob er jede Schuld von sich. So beteuerte er 1990 im persönlichen Gespräch in der libanesischen Bekaa-Ebene, dass diese Morde von Kräften verübt worden waren, die mit der türkischen Kontraguerilla zusammenarbeiteten. Öcalan hat sich auch vom orthodoxen Marxismus losgesagt, gibt sich nun demokratisch und milder. Im Gegensatz zu den frühen achtziger Jahren hat er keine Nachwuchssorgen mehr. Der Vorwurf, wonach die PKK zur Vergrösserung ihrer Bestände Kinder aus Schulen entführt oder armen Eltern abgekauft hatte, ist nicht mehr zu hören. Die Jugendlichen kommen freiwillig und in Scharen zu ihm, aus der Türkei wie aus dem Ausland. Und sie verehren ihren Helden. Öcalan hat unter den Kurden das Gefühl für ihre Identität geweckt. Er zwang die Regierenden in Ankara, sich mit dem Kurdenproblem auseinanderzusetzen und den Bewohnern des türkischen Südostens wenigstens ein paar Zugeständnisse zu machen. Und er lenkte die Aufmerksamkeit der Welt auf die Qualen der Kurden.

Je brutaler der Staat zuschlug, desto mehr Kurden trieb er in die Arme der PKK. «Wenn wir ein Dorf niederbrennen», gestand einmal ein türkischer Offizier ein, «dann flüchtet die Hälfte der Bevölkerung in die nächste Stadt, die andere Hälfte in die Berge zu den Guerilleros.» Doch Öcalan begriff, was die Militärs bis heute nicht verstehen: der Krieg im Südosten lässt sich nicht gewinnen. Der Konflikt verursachte der türkischen Wirtschaft astronomische Verluste, vertrieb 1,5 Millionen Menschen aus dem Südosten, 600 Staatsschulen mussten laut dem türkischen Massenblatt «Hürriyet» geschlossen werden.

Nachdem unter massivem amerikanischem und türkischem Druck der syrische Präsident Asad die Bewegungsfreiheit der PKK in seinem Herrschaftsgebiet drastisch eingeschränkt, sie im Vorjahr aus dem Trainingslager in der Bekaa-Ebene gezwungen und die Guerilla durch eine massive türkische Militäroperation ihre Stützpunkte im Nordirak verloren hatte, wollte Öcalan plötzlich in die Rolle des Friedenshelden schlüpfen. «Türken und Kurden», verkündete der 47jährige versöhnlich, «sind miteinander verbunden wie der Fingernagel mit dem Finger.» Die PKK lehne Terror ab, erstrebe keinen unabhängigen kurdischen Staat mehr, sondern lediglich Autonomie, kulturelle, administrative Rechte und die Achtung der Menschenrechte. Doch Ankara, zutiefst misstrauisch und uneins, schliesslich durch den Tod Präsident Özals im April vollends in Verwirrung gestürzt, gab nicht das erhoffte Friedenssignal. Öcalan seinerseits konnte die Radikalen in den eigenen Reihen nach einer Periode der Ruhe nicht mehr unter Kontrolle halten. Der Konflikt brach wieder auf, und der Guerillachef fügte sich, um die Organisation zusammenzuhalten.

In diesem Jahr griff die PKK erstmals auch touristische und wirtschaftliche Einrichtungen an. Sie entführte ausländische Reisende, um deren Regierungen zur Anerkennung der Kurdenorganisation zu zwingen. Längst operieren die PKK-Anhänger auch in den grösseren Städten im Westen Anatoliens. Seit dem Frühsommer konzentriert die PKK ihre Aktionen stärker auf die nördliche Region Irakisch-Kurdistans.

In Ankara geben derweil die Nationalisten den Ton an. Ministerpräsidentin Tansu Ciller wagte nicht einmal, das Wort Kurden in ihr Regierungsprogramm aufzunehmen, und leugnet geflissentlich, dass es überhaupt ein Minderheitenproblem in ihrem Land gebe. Die Militärs sind fest entschlossen, dem Terror mit noch gnadenloserem Terror zu begegnen.

Birgit Cerha ist Nahostkorrespondentin mehrerer Zeitungen und lebt in Zypern.

Dieser Artikel stammt aus dem Magazin NZZ Folio vom November 1993 zum Thema "Kurden". Sie können diese Ausgabe bestellen oder NZZ Folio abonnieren.