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Artikel 46 / 74

Adolf Hitler: »Aufriß über meine Person«

7. Fortsetzung
Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 21/1973
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Adolf Hitler jagte 1935 durch sein neues Reich. Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf hastete er mit einem kleinen Gefolge im Wagen, in der Eisenbahn. im Flugzeug. Tausende von Kilometern legte er in wenigen Wochen zurück.

Seine Begleiter mußten jederzeit reisebereit sein, denn langfristige Vorbereitungen liebte er nicht: Wann immer es ihm einfiel, die Reichskanzlei zu verlassen, trieb er seinen Diener Karl Wilhelm Krause und die Adjutanten zur Eile an und duldete keinen Aufschub.

Chauffeur Erich Kempka fuhr den schwarzen, sechssitzigen Führer-Mercedez vor, Hitler nahm den Platz neben dem Fahrer ein, hinter ihm saß der Diener. daneben Chefadjutant Wilhelm Brückner. im Rücksitz weitere Adjutanten. Zwei oder drei Wagen mit Sekretärinnen. einem Koch und Proviant folgten.

Hitlers engste Mitarbeiter kamen oft wochenlang nicht aus ihren Kleidern, seine Reiselust führte sie über holperige Landstraßen und in entlegene Dorfgaststätten. Ob sie das »Wirtshaus im Spessart aufsuchten oder im Gasthaus von »Vater Tjarks« auf den Deichen des Nordsee-Orts Horumersiel Quartier bezogen stets verlangte der Chef freudige Präsenz.

Die Adjutanten und Sekretärinnen lernten auf diesen Fahrten das Hitler-Reich gründlich kennen. Ihre offiziellen Tagebücher glichen immer mehr Reisejournalen so auch das Tagebuch, das der Stabsleiter des »Stellvertreters des Führers« führte.

Am 15. Juli 1935 notierte er zum Beispiel: »Fahrt Martin Bormann mit Führer nach Braunschweig« Am 17. Juli; »Besuch des Führer« im Dom (Heinrich der Löwe). Danach Fahrt Goslar -- Clausthal Hohe Geiß -- Kyffhäuser -- Weimar.« Am 18. Juli: »Fahrt Weimar -- Arnstadt -- Coburg -- Schloß Banz -- Nürnberg.« Am 19. Juli: »Flug des Führers von Nürnberg nach München.«

»Manchmal wußte er selber nicht, wohin die Reise gehen sollte«, erinnert sich sein Pressechef Otto Dietrich. Konnte sich Hitler nicht schlüssig werden, für welches von zwei Reisezielen er sich entscheiden sollte, warf er ein Geldstück in die Luft.

Meistens wies ihn sein Instinkt dahin, wo gläubige Menschen bereit waren, seine Botschaft zu hören und dem braunen Erlöser zu huldigen. Deutschlands Führer brauchte die Massen: Sie legitimierten seine Diktatur, ihr frenetischer Beifall gab ihm neue Energie.

An Wanderburschen verteilte er kleine Geldscheine oder Zigarettenpäckchen, die er immer bei sich führte; durchnäßten Spaziergängern reichte er seinen Regenmantel, von jungen Mädchen ließ er sich bereitwillig küssen.

Am Abend posierte Hitler gern in Dorfschenken oder Hotelhallen als der volksnahe Landesherr, als Künstler unter Künstlern. In Bayreuth pfiff Onkel Adolf den vier Enkelkindern Richard Wagners Melodien aus den »Meistersingern« vor, in Weimars Hotel »Elephant« lud er das Ensemble des Deutschen Nationaltheaters ein, in München und Nürnberg diskutierte er mit renommierten Architekten.

Auf den Reisen spielten sich »unbeschreibliche Szenen (Dietrich) ab: Menschen warfen sich vor Hitlers Wagen und stoppten ihn, BDM-Mädchen sprangen in pseudoreligiöser Verzückung auf das Trittbrett.

»Ich habe seine Hand gedrückt, ich habe seine Hand gedrückt«, schrie ein Straßenpassant bei einer Fahrt Hitlers durch Hamburg und tanzte wie besessen. In Darmstadt, berichtet Dietrich. blockierten Zehntausende die Straßen.

Die scheinbar so zufälligen Autoreisen Hitlers waren nicht zuletzt ein Mittel, die Begeisterungsfähigkeit der Massen für den Diktator zu nutzen. Sie blieben nicht das einzige: Auch die plebiszitären Wahlen mit ihren suggestiven Fragestellungen und die gigantomanischen nächtlichen Führer-Kundgebungen mit ihren Lichtdomen und rauschenden Fahnenwäldern ließen ein Gefühl der Gemeinschaft zwischen Hitler und den Deutschen entstehen.

»Verehrung in einer Form, die allein Gott zusteht.«

»Mir fiel jedesmal«, erzählt Hitlers Chefdolmetscher Paul Schmidt von den Nürnberger Parteitagen, »wieder von neuem auf, mit welchem Gesichtsausdruck einer fast biblischen Hingabe die Menschen Hitler verzückt ansahen. Ich habe erlebt, wie Engländern und Franzosen manchmal die Tränen in den Augen standen vor innerer Bewegung über das, was sich vor ihren Augen und Ohren abspielte.«

Zwei Jahre nach der Machtübernahme hatte Adolf Hitler die Masse der Nation hypnotisiert. Wie kein deutscher Staatsmann vor und nach ihm genoß er eine Autorität, die selbst das Gottesgnadentum monarchischer Regime. übertraf.

Mochte auch die Leitung der Bekennenden Kirche zürnen, Hitler werde »vielfach Verehrung in einer Form dargebracht, die allein Gott zusteht« -- es gab nur wenige, die der Hitler-Hysterie widerstanden.

»Uns kommt es aufrichtig aus der Seele: Gott erhalte unserem Volk unseren Reichskanzler«, schrieb der Münchener Kardinal Faulhaber an Hitler, und Mecklenburgs evangelischer Landesbischof Rendtorff mochte ihm nicht nachstehen: Er feierte Hitler als den »uns von Gott gesandten Führer« und trat in die Partei ein.

Und 88 Schriftsteller beeilten sich im Oktober 1933, »vor Ihnen, Herr Reichskanzler, das Gelöbnis treuester Gefolgschaft feierlichst abzulegen« -- Beginn einer Kette schwülstiger »Sinndeutungen« des Hitler-Phänomens. Die Dichterin Ina Seidel fühlte »unser Streben und unsere Arbeit dankbar und demütig aufgehen im Werk des einen Auserwählten der Generation -- im Werk Adolf Hitlers«, und der Lyriker Otto Bangert reimte:

Er stieg empor aus Urwelttiefen und wurde ragend wie ein Berg. Und während wir ins Elend liefen und bebend nach dem Retter riefen, begann er groll sein heilig Werk. Er steht mit aufgereckten Händen im Untergange einer Welt, Verzweiflung zuckt an allen Enden, doch wie mit heißen Feuerbränden sein Geist die wüste Nacht erhellt. Ins ferne Morgenglühen weist er, und alle Herzen sind entbrannt. Die Fäuste beben und die Geister -- nun baue deinem Volk, o Meister, ein neues hohes Vaterland!

Solche Ergüsse machten deutlich, daß es Hitler in kurzer Zeit gelungen war, der Mehrheit des deutschen Volkes zu suggerieren, sie lebe in einem stolzen Staat unter der Führung eines Genies, »um das uns die ganze Welt beneidet«, wie eine Standard-Phrase der NS-Propaganda lautete.

In den Wirren der Republik desorientiert, im Elend der Wirtschaftskrise entmutigt und zugleich autoritätsgläubig auf den starken Mann vertrauend, hatte sich die Nation dem vermeintlichen Heilsbringer überantwortet. In der Panikstimmung jener Zeit zählte für viele Menschen nur Abhilfe aus sozialer Not -- und Hitlers Regime leistete sie.

Ein Sofortprogramm beseitigte das dramatischste Problem: die Arbeitslosigkeit. Hitler hatte bei seinem Amtsantritt 5,6 Millionen Arbeitslose vorgefunden, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm saugte die Beschäftigungslosen in wenigen Jahren auf. 1938 war die Zahl der Arbeitslosen auf 400 000 geschrumpft; in Wahrheit herrschte bereits Arbeitskräftemangel.

Gewiß, die Mittel der Krisenbewältigung stammten fast sämtlich aus Plänen republikanischer Regierungen; der Einsatz eines Arbeitsdienstes für Siedlungs- und Straßenbau, die Anlage von Autobahnen, staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsablauf -- das alles war schon von den Hitler-Vorgängern Brüning, Papen und Schleicher in Aussicht genommen worden. Doch erst die NS-Herren riskierten es, die Pläne in ein Programm umzusetzen.

Ley: »Vom deutschen Arbeiter können Sie alles verlangen.«

Für das schon im Schleicher-Kabinett beschlossene Arbeitsbeschaffungs-Programm stellte Hitlers Finanzminister 600 Millionen Reichsmark zur Verfügung; sie sollten für Haus- und Straßenbau sowie für landwirtschaftliche Bodenverbesserung verwendet werden. Ab Juni 1933 kam ein NS-eigenes Programm hinzu, das die Finanzierung öffentlicher Bauarbeiten und eine Unterstützung bestimmter privater Bauvorhaben ermöglichte: die Regierung gab Arbeitsschatzanweisungen bis zu einer Gesamthöhe von einer Milliarde Reichsmark aus: Autobahnen entstanden, Straßen und Wasserwege wurden verbessert, Siedlungen angelegt.

Als das Geld nicht langte, erfand der Reichsbank-Präsident Hjalmar Schacht ein System, das ihm den Spitznamen »Hitlers Finanz-Zauberer« eintrug. Er ließ vier große Unternehmen (Siemens, Gutehoffnungshütte, Krupp, Rheinstahl) im Auftrage der Regierung die »Metall urgische Forschungs-GmbH« gründen, abgekürzt Mefo. Mit Wechseln dieser Gesellschaft, den sogenannten »Mefo-Wechseln«, für die das Reich die selbstschuldnerische Bürgschaft übernahm, finanzierte er das Arbeitsbeschaffungsprogramm.

Die Reichsbank erklärte sich zwar bereit, die Wechsel gegen bares Geld einzulösen. Doch die Betriebe verzichteten meist darauf und behielten die Wechsel, die immerhin 4 Prozent Zinsen erbrachten. Mit den Mefo-Wechseln kurbelte nun der NS-Staat seine Wirtschaft an, die zunächst vor allem zivilen Bedürfnissen, später aber immer stärker der Rüstungs- und Militärpolitik Hitlers diente (siehe Graphik Seite 114).

Die Wechselhalde zugunsten der Rüstungsproduktion vermehrte das Kreditvolumen. da die Mittel nicht aus dem Reichshaushalt aufgebracht wurden. Eine neue Inflation begann, Schacht trat zurück.

Mit solchen Methoden wurde die Wirtschaft derart auf Touren gebracht, daß bald der Stand des Wirtschaftswunderjahres 1928 erreicht war. Zahlen belegten den »Sieg an der Wirtschaftsfront« (NS-Jargon): 1938 übertrafen die Investitionen der Industrie jene von 1928 um 60 Prozent, der Produktionsindex verdoppelte sich, zwischen 1933 und 1938 stiegen die Pro-Kopf-Ausgaben um 35 Prozent.

Hitlers Deutschland produzierte mehr Möbel und Rundfunkgeräte als die Weimarer Republik in ihrer besten Zeit, die Automobilproduktion verdoppelte sich. Ebenso wuchs das Bruttosozialprodukt: von 59 Milliarden Reichsmark (1933) auf 105 Milliarden Reichsmark (1938).

Noch eindrucksvoller als solche Statistiken waren die sozialen Errungenschaften, die das Regime den Arbeitern brachte. Bessere Arbeitsbedingungen,

* Hitler nach dem ersten Spatenstich zum Baubeginn, 1933.

die Bereitstellung von Wohnungen. der Bau von Sportanlagen und ein gelenkter Massentourismus erzeugten die Illusion, unter Hitler gehe der Arbeiter einem goldenen Zeitalter entgegen.

Vor allem jüngere Arbeiter erhielten bessere Aufstiegsmöglichkeiten. Die »Deutsche Arbeitsfront« (DAF). eine Partei- eigene Zwangsorganisation, in der sich Arbeiter und Unternehmer vereinigen mußten, preßte die Sozialpartner in eine künstliche »Volksgemeinschaft«. DAF-Chef Robert Ley tönte: »Wenn der Arbeiter weiß, daß der Unternehmer der Kamerad ist, dann können Sie vom deutschen Arbeiter alles verlangen.«

»Der Offizier ist heute

selbstverständlich Nationalsozialist.«

Den DAF-Funktionären gelang es tatsächlich, streckenweise die Klassengrenze zu beseitigen, die bis dahin Arbeitnehmer und Arbeitgeber getrennt hatte. »Mit dem Verlust an Freiheit«, so urteilt der Sozialhistoriker David Schoenbaum, »ging praktisch ein Gewinn an Gleichheit einher.« Nur wenige wollten jedoch wahrhaben. wie teuer der soziale Fortschritt erkauft war.

Die Zerschlagung der Gewerkschaften, eine scharfe Arbeitsplatzkontrolle, Einschränkungen der Freizügigkeit und das Spitzeltum der DAF-Vertrauensleute verurteilten die Arbeiter zur politischen Ohnmacht. Bezeichnend dafür war die Tatsache, daß die Touristenschiffe der DAF-Organisation »Kraft durch Freude«. die den Ruhm des »neuen sozialen Deutschlands« in alle Welt hinaustragen sollten, mit beschlagnahmten Gewerkschaftsgeldern gebaut wurden.

Doch für die Masse der Arbeiter wog die Beseitigung sozialer Not mehr als der Verlust politischer Freiheit. Einige rafften sich zum Widerstand auf, die erdrückende Mehrheit aber ließ sich von dem totalitären Sozialstaat imponieren.

Was die materiellen Anreize in der Arbeiterschaft bewirkten, lösten Hitlers nationalistische Parolen in den alten bürgerlich-feudalistischen Führungsschichten aus. Sein Programm, eine Mixtur aus autoritärem Preußentum und völkischer Expansionsideologie, setzte einen Prozeß beklemmender Selbstgleichschaltung in Bewegung: Kulturbetrieb, Staatsapparat und Wehrmacht richteten sich nach dem charismatischen Führertum Hitlers aus.

Noch ganz dem nationalstaatlichen Denken des Zeitalters verhaftet, ließen sich breite Volks. schichten von den Formeln eines nationalen Idealismus berauschen, dessen Theoretiker und Propagandisten behaupteten (und zum großen Teil auch wirklich glaubten). an die Stelle jahrhundertealter deutscher Zersplitterung und demokratisch-parlamentarischer Interessenkungelei sei die Treue und Disziplin einer einigen Nation getreten.

Die Masse der Deutschen wußte noch nicht, daß gerade nationale Parolen es den Mobilmachern eines totalitären Regimes erleichtern, die Bevölkerung zu jedem gewünschten Zweck zu manipulieren. Die ideologische Ausrichtung der Jugend auf Kampf und Krieg, die Umformung der Gesellschaft nach dem Muster einer disziplinierten Gefolgschaft hätte kritische Menschen stutzig machen müssen, doch der Appell an Gemeinnutz und Betätigungsdrang

* An Bord des KdF-Schiffs »Robert Ley«.

lenkte von den Untiefen des Regimes ab.

Wer nicht zu den Tausenden gehörte, die im Frühjahr 1933 vor dem Gleichschaltungsterror der SA geflohen waren, paßte sich jetzt ganz von alleine an. Schriftsteller (Gerda von Below an Hitler: »Gewaltiger auf Erden, laß du uns sein und werden"), Wissenschaftler und Beamte setzten sich bedingungslos für die Führerdiktatur ein.

Die Wehrmacht, angeblich ein Bollwerk nichtnationalsozialistischer Autorität, war ein besonders eilfertiger Schrittmacher der Anpassung. Der Reichskriegsminister von Blomberg bat als erster Nicht-Parteigenosse Hitler um die Genehmigung, die Anrede »Mein Führer« benutzen zu dürfen, und wollte schon 1934 den Heil-Hitler-Gruß in der Wehrmacht einführen.

In der Wehrmacht grassierte ein besonders hektischer Hitler-Kult. Propagandisten des Reichskriegsministeriums mühten sich, den Frontsoldaten Hitler für die Wehrmacht zu beanspruchen, die Reichswehr als einen Vorläufer des Nationalsozialismus zu deuten. Abwehr-Chef Wilhelm Canaris: »Wie der Offizier vor dem Weltkrieg selbstverständlich Monarchist war, so selbstverständlich ist es heute, Nationalsozialist zu sein.«

Hitlers Appelle an den Nationalismus, seine darwinistisch-antisemitische Ideologie, seine Brandreden gegen das Unrecht von Versailles und die Visionen von einem Großdeutschen Reich fanden ein vieltausendstimmiges Echo unter

hingebungsvollen Dichtern, Klerikern und Beamten.

Gewiß, die geistige öde des neuen Deutschlands störte auch manchen von ihnen, die wachsende Macht der Gestapo und das System der Konzentrationslager wirkten abschreckend, doch das Gift der totalitären Verführung lähmte bereits jeden offenen Protest.

Nicht einmal die Verfolgung der Juden, die nun als das Böse schlechthin galten, provozierte lauten Widerspruch. Die antijüdischen Boykott-Aktionen in Städten und Dörfern, die antisemitischen »Säuberungen« in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, die Ächtung der Juden durch die Nürnberger Gesetze -- nichts vermochte die seit Jahren an das judenfeindliche Klima gewöhnte Gesellschaft zu alarmieren.

Wer aber doch an Ausschreitungen und Machtmißbrauch Anstoß nahm, erwartete Abhilfe nicht selten von Hitler selbst. Denn der übersteigerte Ordnungssinn der alten Herrschaftsschicht konnte sich den Kanzler des Deutschen Reiches nicht anders vorstellen als einen Mann, der in jedem Augenblick zur Wahrung der Staatsautorität entschlossen sei.

So mancher glaubte, man müsse zwischen Hitler und der Partei unterscheiden. Der Generalfeldmarschall von Manstein berichtet in seinen Memoiren, es sei damals im Heer »weitverbreitete Anschauung« gewesen, daß »Hitler von den Missetaten seiner Leute nichts wisse und sie sicher nicht billigen würde, falls er sie erführe«. Aus solchen Wunschvorstellungen entstand dann die Formel: »Wenn das der Führer wüßte!« »Man muß das ganze Volk hypnotisch hinter sich haben.«

Hitler hatte nicht umsonst seit Beginn seiner Kanzlerschaft stets den nationalkonservativen Staatserhalter her. vorgekehrt, Er galt als der Liquidator der »zweiten Revolution« nationalsozialistischer Heißsporne, er hatte den anfangs von ihm selber forcierten Versuch der Partei abgebrochen, die Evangelische Kirche in eine NS-Kirche umzudrehen, er predigte Stabilität und Ordnung.

»Die nationalsozialistische Bewegung«, schrieb er 1933 an den Breslauer Kardinal Bertram, »hat keinen sehnlicheren Wunsch als den, es möchten doch die beiden Kirchen dem Kampf zur Wiederherstellung einer wirklichen Autorität ein gütiges Verstehen entgegenbringen.« Und er wurde nicht müde, die Ordnungsfunktion der Wehrmacht zu preisen -- zuweilen auch gegenüber Kritik aus Reihen der Partei. wie er noch 1937 demonstrierte:

Dann kommt aber vielleicht einer von der Partei und sagt zu mir: »Alles gut und schön, mein Führer, aber der General Soundso spricht und arbeitet gegen Sie!« Dann sage ich: »Das glaube ich nicht!« und wenn dann der andere sagt: »Ich bringe Ihnen aber schriftliche Beweise, mein Führer!«, dann zerreiße ich den Wisch, denn mein Glaube an die Wehrmacht ist unerschütterlich.

In Wahrheit aber war Adolf Hitler keineswegs an der Staatsautorität interessiert, ihm ging es in erster Linie um seine persönliche Macht. Nichts konnte ihn gleichgültiger lassen als das Schicksal eines von seiner Person losgelösten Staates.

Erst 1946 erkannte Otto Ohlendorf, einer der führenden Ideologen der SS: »Der Führer hat nicht nur den Staat verneint als Selbstzweck, sondern ihn in einer Form vernichtet, daß er auch nicht mehr als Instrument zur Verfügung stand.« Aber nicht nur der Staat. auch die Partei mußte weichen, um Hitler zu ermöglichen, wonach er strebte: die absolute Führergewalt.

Vor der Machtergreifung hatten sich die Parteigenossen das nationalsozialistische Herrschaftssystem anders vorgestellt. »Das Ziel der nationalsoziaiistischen Revolution muß ein totaler Staat sein, der alle Bereiche des öffentlichen Lebens durchdringt«, erklärte Propaganda-Chef Goebbels, und Wilhelm Frick prophezeite »eine starke Regierung, ungehindert von einzelnen Personen, Gruppen, Klassen, Privilegien, Parteien und Parlamenten«.

Die Nationalsozialisten wollten einen uralten Traum vieler unpolitischer Deutscher verwirklichen: den starken Staat, in dem nur ein Wille galt, der Wille des Führers, und in dem nur eine Staatsdoktrin herrschte, die Weltanschauung der NSDAP. Was aber schließlich daraus wurde, war ein Zerrbild all solcher Hoffnungen und Ideen. Die Pläne der Nationalsozialisten hatten einen Fehler gehabt: Sie berücksichtigten nicht die Machtgier Hitlers.

Bereits 1933 hatte Hitler verhindert, was jedem Parteigenossen selbstverständlich erschienen war: die Übernahme des Staates durch die Partei. Hitler ließ sie ihre in langen Jahren angestauten Ressentiments und Neidkomplexe im Gleichschaltungs-Frühjahr 1933 austoben, dann pfiff er sie wieder zurück; wer (wie Ernst Röhms SA) nicht bedingungslos gehorchen mochte, wurde ausgeschaltet.

Einzelne Parteigenossen durften in Staatsstellen einrücken, der Partei aber blieb der Staat verschlossen. Hitler funktionierte die NSDAP um: zu einem Transmissionsriemen der Führergewalt, zum politisch-ideologischen Mobilmacher des Volkes. Auf einer Berliner Gauleitertagung im Februar 1934 erläuterte er sein Konzept. Aus einem Protokoll:

Der Führer betonte: Wesentliche Aufgaben der Partei seien: 1. für die beabsichtigten Maßnahmen der Regierung das Volk aufnahmefähig zu machen, 2. angeordneten Maßnahmen der Regierung im Volk zur Durchsetzung zu verhelfen, 3. die Regierung in jeder Art und Weise zu unterstützen. Im übrigen dürfen wir jeweils immer nur einen Kampf führen. Gerade für außenpolitische Fragen ist es notwendig, das ganze Volk hypnotisch hinter sich zu haben, die ganze Nation muß geradezu mit Sportgeist, mit Spielerleidenschaft an diesem Kampf interessiert sein. Nimmt die ganze Nation an dem Kampf teil, so verspielt auch sie. Ist sie desinteressiert, verspielt nur die Führung. In dem einen Fall entsteht eine Wut des Volkes über den Gegner, im anderen über den Führer.

Hitler paßte scharf auf, daß sich Partei und Staat niemals vereinigten, wenn er auch ihre »Verschmelzung« ankündigte. Es wurde sogar ein »Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat« erlassen, doch es billigte der Partei nur eine propagandistische Aufgabe zu; sie sei »Trägerin des deutschen Staatsgedankens«. Deutlicher konnte man »die klare Unterordnung der Partei unter die Staatsführung« (so der Historiker Martin Broszat) nicht formulieren.

Hitler entmachtet das Reichskabinett.

Die Partei war neutralisiert, noch aber drohten Hitler vom Staat Gefahren. Die besonderen Bedingungen der Machtübernahme von 1933, die Tage der Zwangspartnerschaft mit den konservativen Kräften, hatten bewirkt, daß mancher nichtnationalsozialistische Beamte und Politiker im Staatsapparat an Einfluß gewann.

Selbst im Reichskabinett saßen noch sieben konservative Fachminister. die auf mancher Kabinettssitzung ihre NS-Kollegen in heikle Debatten verstrickten. Solange Hindenburg lebte, duldete Hitler solche Diskussionen, denn die offiziell noch geltende -- Weimarer Verfassung schrieb vor, das Kabinett habe unter Vorsitz des Kanzlers gemeinschaftlich die Gesetzesentwürfe einzelner Minister zu beraten und mit Stimmenmehrheit zu beschließen.

Nach dem Tode Hindenburgs aber entmachtete Hitler das Kabinett. Jeder Minister mußte ihm am 16. Oktober 1934 schwören: »Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler treu und gehorsam sein«; von da an wurde auf die Beratung von Gesetzesvorlagen verzichtet. »Einstimmig« (so die regelmäßig auftauchende Protokoll-Floskel) begrüßten die Minister Hitlers Erklärungen.

Bald verlor der Kanzler jedes Interesse an seinem Kabinett, ab 1935 tagte es kaum noch. Aus der Reichsregierung wurde »ein Führerrat, der den Führer und Reichskanzler bei der von ihm zu treffenden Entscheidung berät und unterstützt«, wie ein NS-Jurist erläuterte,

Das traditionelle Lenkungsorgan des Staates zerfiel, an seine Stelle rückte die Führergewalt. Hitler betraute einen kleinen Kreis engster Mitarbeiter mit Sonderaufträgen, ließ sie selbständig in schier pausenloser Zellteilung neue Mini-Führergewalten schaffen und unterstellte alles seinem persönlichen Befehl.

Ständig bauten sich Hitlers Paladine neue Imperien. SS-Chef Himmler löste die Polizei aus der inneren Verwaltung heraus und vereinigte sie mit der SS zu einem »Staatsschutzkorps. Der Ex-Oberst Hierl spaltete seinen Reichsarbeitsdienst von den Landesarbeitsämtern ab und machte daraus eine Partei-Organisation. Fritz Todt brach sich aus dem Reichsverkehrsministerium Teile heraus und fügte sie zu einer eigenen Behörde zusammen.

Hitlers Regierungsstil: Anarchie der Vollmachten.

Dabei waren sie nie ganz sicher, ob sie im Sinne ihres Führers handelten. Nicht immer gab er in Befehlen kund, was er wollte. Dahinter stand Hitlers Absicht, nirgends eine dauerhafte Struktur entstehen zu lassen, die seine Bewegungsfreiheit einengen könnte.

Seine Befehle waren manchmal bewußt ungenau formuliert. Die »Anarchie der Vollmachten«, wie der NS-Jurist Hans Frank das Regierungssystem Hitlers nannte, sollte verhindern, daß der Führer in die Abhängigkeit seiner Mini-Hierarchen geriet. Die Folge: ein unentwegter Kompetenzkampf.

Hitler schürte solche Kämpfe. Wenn der Außenminister von Ribbentrop im Stabe Hitlers anrief und von seinem Vertreter, dem Botschafter Hewel, über die Laune des Führers informiert werden wollte, erfand Hitler während des Telephonats wilde Zornesausbrüche, die Hewel dann seinem Chef zu melden hatte, um ihn in Aufregung zu versetzen. Himmler oder der Ideologie-Papst Rosenberg erfuhren auf ähnlichem Wege, daß sie am Hofe des Diktators nicht immer persona grata waren.

Vor allem Himmlers geheimnistuerische SS-Ritualien erregten den Zorn Hitlers: »Welcher Unsinn! Jetzt sind wir endlich soweit, in eine Zeit zu kommen, die alle Mystik hinter sich gelassen hat, und nun fängt der wieder von vorne an. Da könnten wir auch gleich bei der Kirche bleiben. Die hat wenigstens Tradition.«

Oft eilte dann der vom echten oder vorgetäuschten Zorn Hitlers Heimgesuchte unter irgendeinem Vorwand zu seinem Führer und verkündete nach der Audienz prompt, ihm sei soeben ein neuer Führerbefehl erteilt worden.

Um nicht im selbsterzeugten Chaos unterzugehen, ließ Hitler in der Reichskanzlei einen zentralen Befehlsapparat errichten, der die drei Mächte -- Führergewalt, Staat und Partei -- koordinieren sollte:

* Die »Adjutantur des Führers« legte Hitlers Tagesordnung fest und übermittelte Hitler-Befehle an Ministerien. Parteistellen und Sonderbehörden.

* der »Adjutant der Wehrmacht beim Führer« regelte den Kontakt zu den Streitkräften,

* die »Kanzlei des Führers der NSDAP« bearbeitete Eingaben aus der Bevölkerung;

der »Stab des Stellvertreters des Führers« hielt die Verbindung zwischen Hitler und der Partei.

* die Reichskanzlei kanalisierte die Kontakte zwischen Hitler und den Ministerien, und

* die Präsidialkanzlei bearbeitete alle Fragen. die sich aus Hitlers Rolle als Staatsoberhaupt ergaben.

Je dichter das Gestrüpp der Befehls- und Koordinationsstellen wurde, desto leichtherziger zog sich Hitler von Regierung und Partei zurück. »Pg 1 antwortet nicht«, spöttelten seine Mitarbeiter in Anlehnung an den Titel eines damals populären Hans-Albers-Films ("FP 1 antwortet nicht").

Hitler will Berlin

von Grund auf umgestalten.

Hitler widmete sich wieder mehr langfristigen »Aufbauarbeiten«, wie er es nannte. Eine einzige geniale Idee, so schärfte er seinen Adjutanten ein, sei wertvoller als ein ganzes Leben gewissenhafter Büroarbeit.

Routine. gar Arbeit am Schreibtisch hatte Hitler nie gemocht; der Bohemien in ihm rebellierte gegen jede Art regelmäßiger Tätigkeit. Er führte das »kurioseste Privatleben, das je ein Mann in höchster politischer und staatlicher Stellung geführt hat«, wie Dietrich urteilt: Hitler »führte seine Dienstgeschäfte inmitten seines Privatlebens und lebte ein Privatleben inmitten seiner Amtsgeschäfte«.

Zwar las er stets vor dem Aufstehen gegen Mittag die Morgenmeldungen, die ihm Diener Krause vor die verschlossene Tür des Schlafzimmers legte, aber die weiteren Stunden des Tages waren nur mit Gesprächen, mündlichen Befehlen und endlosen Monologen ausgefüllt -- bis er um drei oder vier Uhr morgens endlich Schlaf fand.

Manchmal war ihm dabei die Zukunft des deutschen Städtebaus wichtiger als die künftige Politik des projektierten Großdeutschen Reiches. Mit Al-

* Von rechts: Eva, Schwester Gretl, Eltern, Schwester Ilse.

bert Speer diskutierte er über Architekturprobleme.

Speer schlug einmal vor, das alte Reichstagsgebäude abzutragen. da es städtebaulich störe. Hitler wollte davon nichts wissen: »Ihr habt auch gar keine Ehrfurcht vor den alten Sachen« Er selber freilich plante, Linz, München und Berlin von Grund auf umzugestalten.

Als der Architekt und Speer-Mitarbeiter Rudolf Wolters die Öffentlichkeit dafür reif machen sollte, das Alte Rathaus in Berlin abzureißen, half Hitler stilistisch mit. Wolters entwarf einen Leserbrief für eine Berliner Zeitung, der Hitler nicht restlos gefiel; er formulierte ihn stellenweise um -- aus dem Projekt wurde dennoch nichts.

Die Berliner Olympiade von 1936, internationaler Höhepunkt des Regimes, inspirierte ihn, ein Riesenstadion für Nürnberg zu planen. Hitler: »Berlin war die letzte internationale Olympiade, an der Deutschland teilgenommen hat. In Zukunft werden wir hier in Nürnberg die großartigste Sportveranstaltung der Welt in eigener Regie unter uns abhalten.«

Bald wurde ihm die Reichskanzlei zu eng; er sehnte sich nach einem Refugium, wo er in aller Stille seine nächsten politischen Pläne überdenken konnte. Ein sich immer stärker profilierender Mitarbeiter namens Martin Bormann, Stabsleiter beim »Stellvertreter des Führers«, entwickelte eine verlockende Idee: Man müsse »Haus Wachenfeld« zu einem Sanssouci des neuen Reiches ausbauen.

Der Gedanke war auch Hitler schon gekommen. Wann immer er am Wochenende nach München aufbrach, um Eva Braun zu sehen, hatte ihn das Projekt beschäftigt. Es besaß zudem den Vorteil, all die peinlichen Probleme zu lösen, die sich für ihn aus dem ungeklärten Verhältnis zu der attraktiven Sekretärin des NS-Leibphotographen Hoffmann ergeben hatten. Seit Hitler mit ihr liiert war, hatte Eva Braun gedrängt, er solle ihr endlich einen offiziellen Status geben. Sie war das Versteckspiel vor ihren Eltern leid, die heimlichen Treffs mit Hitler in entlegenen Lokalen. Oft fühlte sie sich auch von Hitler vernachlässigt, er kam nicht zu Verabredungen und interessierte sich für andere Frauen.

»Das Wetter«, schrieb sie am 10. Mai 1935 in ihr Tagebuch, »ist so herrlich, u. ich, die Geliebte des größten Mannes Deutschlands und

der Erde, sitze und kann mir die Sonne durchs Fenster begucken.« Sie kam sich schon wie »eine beginnende alte Jungfer« vor, ein »einschichtiges Weiberl mit 23 Jahren«.

Hitler jedoch beteuerte immer wieder, die Staatsgeschäfte verböten ihm eine Heirat. Verzweifelt notierte sich Eva: »Ich wünsche mir nur eines, schwer krank zu sein und wenigstens 8 Tage von ihm nichts mehr zu wissen. Warum passiert mir nichts, warum muß ich das alles durchmachen«

Sie kaufte sich 35 Schlaftabletten und inszenierte am Abend des 28. Mai 1935 einen Selbstmordversuch -- freilich auf ihre praktisch-lebenskluge Art: Sie wählte einen Zeitpunkt, der garantierte, daß ihre zum Besuch angemeldete Schwester sie noch in letzter Minute retten konnte.

Das Manöver brachte einen ersten Erfolg: Hitler kaufte Eva Braun im Münchner Stadtteil Bogenhausen eine Villa. Die Hoffmann-Sekretärin trennte sich von ihren Eltern und bezog das Haus zusammen mit ihrer Schwester Gretl: ein ungarisches Hausmädchen bediente die beiden.

* 28. V. Herrgott ich habe Angst daß er heute keine Antwort gibt. Wenn mir nur ein Mensch helfen würde es ist alles so schrecklich und trostlos, vielleicht hat ihn mein Brief in einer ungeeigneten Stunde erreicht, vielleicht hätte ich auch nicht schreiben sollen. Wie es auch sein wird die Ungewißheit ist fruchtbarer zu ertragen als ein plötzliches Ende. Lieber Gott hilf mir daß ich ihn heute noch sprechen kann morgen ist es zu spät. Ich habe mich für 35 Stück entschlossen es soll diesmal wirklich eine »todsichere« Angelegenheit werden. Wenn er wenigstens anrufen lassen würde.

Vater Braun reagierte empört. Am 7. September 1935 setzte er einen Brief an Hitler auf:

Sehr geehrter Herr Reichskanzler! Es ist mir sehr unangenehm, mit einer Privatangelegenheit Sie belästigen zu müssen, nämlich mit meinem Kummer als Familienvater. Meine Familie ist nun auseinandergerissen, weil meine beiden Töchter Eva und Gretl in eine von Ihnen zur Verfügung gestellte Wohnung gezogen sind und ich als Familienoberhaupt vor eine vollendete Tatsache gestellt worden bin. Natürlich habe ich Eva des öfteren Vorhaltungen gemacht, wenn sie wesentlich später als nach Dienstschluß nach Hause gekommen ist. Außerdem stehe ich auf dem vielleicht altmodischen Standpunkt in moralischer Hinsicht: Der Obhut der Eltern und dem gemeinsamen Heim werden die Kinder erst bei Heirat entzogen. Das ist mein Ehrbegriff. Ganz abgesehen davon, daß ich meine Kinder sehr vermisse. Für Ihr Verständnis hierfür wäre ich Ihnen, sehr geehrter Herr Reichskanzler, überaus verbunden und schließe daran die Bitte, den Freiheitsdrang meiner Tochter Eva, die ja volljährig ist, nicht zu unterstützen, sondern sie zu veranlassen, in die Familie zurückzukehren,

Mit vorzüglicher Hochachtung Fritz Braun

Braun vertraute das Schreiben Hoffmann an, der es Hitler persönlich aushändigen sollte: Hoffmann aber gab es Eva Braun, die das Papier »in tausend Stücke zerriß«, wie ihr amerikanischer Biograph Nerin E. Gun berichtet. Eine Kopie des Briefes aus dem Besitz Brauns blieb erhalten.

Aber auch das Leben in der Bogenhausener Villa machte Eva Braun nicht glücklicher; Hitler besuchte sie nur selten dort, meist trafen sie sich an einem anderen Ort. Selbst die Besuche in Haus Wachenfeld waren für Eva Braun unerquicklich, denn die dort amtierende Hausdame, Hitlers Halbschwester Angela Raubal (die Mutter der unvergessenen Geli), ließ Eva deutlich spüren, daß sie unwillkommen war -- bis Hitler 1936 seine Verwandte hinaussetzte.

Aus all diesen Verstrickungen boten nun Bormanns Vergrößerungspläne einen Ausweg. Haus Wachenfeld sollte erweitert, die ganze Umgebung in einen riesigen Park verwandelt werden, Elysium für den Führer des Deutschen Reiches und Treffpunkt der Großen dieser Welt. Das alles kostete freilich Geld -- mehr Geld, als Hitler persönlich zur Verfügung stand.

Hitlers Adjutanten beteuerten später gerne, ihr Chef habe nie ein Verhältnis zum Geld gehabt. Dietrich: »Er hat nie ein Bankkonto besessen. Er benutzte weder Brieftasche noch Portemonnaie.« Das mag stimmen. Und doch ist Hitler als vielfacher Millionär gestorben: 15 Millionen Reichsmark zählte 1945 seine Barschaft.

Denn zu jeder Zeit waren Helfer bereit, das Vermögen ihres Führers zu mehren. Einer von ihnen war der Alt-Parteigenosse Fritz Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium. Gestützt auf Hitlers Erklärung. er werde auf sein Gehalt als Reichskanzler (jährlich 29 200 Reichsmark) verzichten, befreite Reinhardt seinen Chef von allem Steuerzwang.

Nach der Machtübernahme war Hitlers Buch »Mein Kampf« zum freiwillig-unfreiwilligen Weltbestseller geworden. Schon 1933 brachte es dem Autor Jahreseinkünfte von 1 232 335 Reichsmark, wodurch die Zahlung einer Einkommenssteuer in Höhe von 297 005 Reichsmark fällig wurde.

Reinhardt aber verfügte, bei der Berechnung der Steuerschuld seien höchste Werbungskosten abzuziehen. Er schrieb am 30. Januar 1934 an Hitler:

Im Hinblick auf die Ihnen in Ihrer Eigenschaft als Führer des deutschen Volkes entstehende außergewöhnliche Belastung erkläre ich mich mit Abzug von 50 % des Gesamtbetrages Ihrer Einkünfte als Werbungskosten für das Steuerjahr 1933 einverstanden.

Als jedoch das zuständige Landesfinanzamt München die Abschlußzahlung anmahnte, reagierten Hitler und seine Adjutanten nicht. Die Hitler-Anhänger meinten ohnehin, der Befreier Deutschlands könne doch keine Steuern zahlen. Das las sich dann in einer Aktennotiz des Leiters der Münchner Finanzbehörde vom 19. Dezember 1934 so:

Ich habe die Steuerangelegenheiten des Führers inoffiziell mit dem Staatssekretär (Reinhardt) erörtert. Wir stimmten darin überein, daß der Führer im Hinblick auf seine verfassungsrechtliche Stellung nicht steuerpflichtig ist, und daß es eine verfassungsrechtliche Frage ist, ob und inwieweit der Führer einem Steuerpflichtigen gleichzustellen ist. Überdies würde die Ausfertigung und Zustellung eines Steuerbescheids an sich keine gesetzliche Steuerpflicht begründen. Alle Steuerbescheide sind, soweit sie eine Verpflichtung für den Führer begründen sollten, nichtig. Ich bitte daher, dafür zu sorgen, daß die Vorgänge unter Verschluß gehalten werden.

Den durch solche Steuermanipulation erhamsterten Millionenschatz öffnete nun Hitler, als die Erweiterung von Haus Wachenfeld beschlossen wurde. Doch das Geld reichte nicht aus. Bormann bat daraufhin die Herren der Wirtschaft zur Kasse; eine »Adolf-Hitler-Spende der Industrie« sicherte dem Bauführer weitere Millionen.

Bormann rückte Anfang 1936 mit Baggern, Bohrmaschinen, Lkw und 5000 Arbeitern auf den Hohen Göll, an dessen Nordosthang Haus Wachenfeld lag. Er kaufte das ganze Gelände rings um das Hitler-Haus auf, die Bergbauern mußten ihre Besitzungen verlassen, selbst das Dorf Obersalzberg am Fuße des Berges verschwand.

Er ließ die Bauernhöfe, erinnert sich Speer, »ebenso abreißen wie die zahlreichen geweihten Marterln, obwohl hier die Kirchengemeinde Einspruch erhob. Auch Staatsforste kassierte er, bis das Gelände von einem fast 1900 Meter hohen Berg in das 600 Meter tiefer gelegene Tal reichte und eine Fläche von sieben Quadratkilometern umfaßte«.

Immer uferloser wurden Bormanns Bauprojekte. Er legte Häuser, eine Großgarage und Kasernen an, er baute Wiesenpfade zu breiten Wegen oder gar Asphaltstraßen aus; eine Fahrstuhlanlage wurde in den Berg getrieben, auf dem 1837 Meter hohen Kehlstein errichtete er ein »Teehaus«, in dem Hitler später seine Nachmittage verbrachte.

Dann ließ der unermüdliche Bauherr zwei meterhohe Stacheldrahtzäune ziehen -- einen um das in »Berghof« umbenannte Haus Wachenfeld und einige Nachbargebäude, den anderen um das ganze Gelände. Ortspolizisten und Männer des Reichssicherheitsdienstes zogen auf Wache, später kam eine Einheit der Leibstandarte hinzu. »Das hat dein Freund Goebbels gerade verboten.«

Hitler. fassungslos und doch beeindruckt von solchem Eifer, ließ Bormann gewähren, wenn ihm auch der Krach der Baumaschinen auf die Nerven ging. Bormann verdiene wirklich seinen Namen, spottete er, und in melancholischen Augenblicken malte er sich aus: »Wenn alles fertig ist, suche ich mir ein stilles Tal und baue dort wieder ein kleines Holzhaus wie das erste.«

Nur an das Intimste des Berghofs, das alte Landhaus, ließ er Bormann nicht heran. Hitler hatte die Umbaupläne selber entworfen; er ließ sich, weiß Speer noch, »von mir Reißbrett, Reißschiene und anderes Gerät geben, um Grundriß, Ansichten und Schnitte seines Baues maßstäblich selbst aufzuzeichnen«.

Er baute um Haus Wachenfeld herum, »wie man eine Kathedrale um eine Kapelle herumbaut« (Gun). Die beiden Wohnräume wurden miteinander verbunden, eine riesige Empfangshalle entstand, ein Stockwerk wurde aufgesetzt, gewaltige Treppen angelegt. Nur teuerstes Material durfte verwendet werden, etwa Marmor aus Carrara und Steine aus Böhmen.

In diese Privatwelt Hitlers durfte nun endlich Eva Braun als Hausherrin einziehen. Ihr Ausweis legitimierte sie als Privatsekretärin des Führers, jeder Bewohner des Berghofs aber wußte, daß sie die Chefin war. Sie verstand es durchaus, ihre Rechte neben Hitler und den Granden des Regimes zu wahren, auch wenn sie sich bei offiziellen Zusammenkünften in ihr Zimmer zurückzog.

Sie sorgte dafür, daß Hitler auf dem Berghof fast immer nur Zivilanzüge (Eva: »Du mit deinen Briefträgermützen") trug. Sie zog ihre Freundinnen ins Haus, um die Langeweile der NS-Gesellschaften aufzulockern. Zuweilen stichelte sie auch gegen die Partei.

Eva Braun legte gern eine Tanzplatte auf, um von Hitler zu hören: »Hübsch, was du da spielst.« Darauf Eva: »Und eben das hat dein Freund Goebbels gerade verboten.«

Ihre Freundin Marion Schönemann assistierte dabei. Hitler frozzelte, als sie von einem Gottesdienst zurückgekommen war: »Es waren sicher viele Menschen da um Ihren Hut zu bewundern?« Marion Schönemann: »Es war brechend voll. Das Gedränge wird immer größer, seit die Partei den Leuten sagt, sie sollten nicht mehr in die Kirche gehen.«

Eva Braun hatte sogar durchgesetzt. daß ihre beiden Terrier »Negus« und »Stasi« Vorrang vor Hitlers Schäferhündinnen hatten, sie allein durften frei herumlaufen. Der Krieg der beiden Hundeparteien sorgte für manchen Standard-Scherz im Hause Hitler/ Braun. Wenn die Hausherrin gut gelaunt war, fragte der Chef: »Evi, erlaubst du, daß die arme Blondi für ein halbes Stündchen zu uns kommt?«

Dabei versagte sich Eva Braun jede Anspielung auf ihre Liaison mit dem Chef. Krause-Nachfolger Heinz Linge traf die beiden nur einmal im gemeinsamen Bett, weil sie vergessen hatten, das Schlafzimmer abzusperren, und der Adjutant Wiedemann sah gelegentlich vor Hitlers Schlafzimmertür »die kleinen Schuhe von Eva Braun neben den großen Stiefeln des Führers«. Wiedemann: »Sie spielten diese ganze Komödie, und dann ließen sie ihre Schuhe vor der Tür stehen.«

Doch lange genoß Hitler die Stunden mit Eva Braun nicht, der Berghof deprimierte ihn bald. Erschreckt beobachteten seine Gäste, wie er sich immer mehr von ihnen abschloß. Der Dauer-Gast Speer erkannte 1936/37 »einen Wandel, der bei Hitler mehr und mehr sichtbar wurde«; Hitler begann »selbst für seine engste Umgebung zu einem abweisenden, beziehungsarmen Despoten« zu werden.

Er schloß sich jetzt oft ein und versank in lange Grübeleien. Abweichende Meinungen mochte er nur noch selten hören, selbst die Stimmungsberichte seiner Kanzleien mißfielen ihm: »Die Stimmung im Volk ist nicht schlecht, sondern gut. Ich weiß es besser.«

Immer öfter beschlich Hitler das Gefühl, ihm bleibe nicht mehr lange Zeit, das zu vollenden, was er für sein Werk hielt. Er sprach oft von Scheitern und Rücktritt. Hitler: »Vielleicht besucht mich dann gelegentlich noch einer meiner früheren Mitarbeiter. Aber ich rechne nicht damit. Ich werde einsam sein.«

Stundenlang horchte er in sich hinein, weil er glaubte, von einer heimtückischen Krankheit befallen zu sein. In der Tat war er krank: Er litt unter häufigen Magenschmerzen und Blähungen, er

* Für den Fall meines Todes verfüge ich: 1.) Mein Leichnam kommt nach München, wird dort in der Feldherrnhalle aufgebahrt und im rechten Tempel der ewigen Wache beigesetzt. (Also der Tempel neben dem Führerbau) Mein Sarg hat dem der übrigen zu gleichen. 2.) Mein gesamtes Vermögen vermache ich der Partei. Die mit dem Parteiverlag abgeschlossenen Verträge werden dadurch nicht berührt. Über die noch vorhandenen oder künftigen Einnahmen aus meinen Werken verfügt die Partei. 3.) Die Partei muß dafür folgende Beträge jährlich zur Auszahlung bringen;

hatte Herzbeschwerden und ängstigte sich über eine anhaltende Heiserkeit, die er für den Vorboten eines Kehlkopfkrebses hielt. Auch Beschwerden in der Gegend der rechten Niere und eine Schwellung im Oberbauch irritierten ihn.

Die Untersuchungen der Ärzte erwiesen freilich, daß die meisten Beschwerden auf Hitlers unsachgemäße Rohkost-Kuren zurückgingen. Der Halsspezialist Eicken entfernte ihm ein paar harmlose Stimmbandpolypen, während ihm der umstrittene Modearzt Theo Morell Mutaflor und Antigaspillen verordnete, um die Magen- und Darm-Störungen zu beheben.

Der mißtrauische Patient aber glaubte sich noch nicht geheilt und spürte weiteren Krankheitssymptomen nach. Adolf Hitler fühlte sich dem Tode schon so nahe, daß er am 2. Mai 1938 ein Testament aufsetzte.

Er vermachte sein »gesamtes Vermögen« der Partei und verfügte, daß »an Fräulein Eva Braun, München, auf Lebenszeit monatlich 1000 Mark (eintausend Mark), also jährlich 12 000 Mark« auszuzahlen seien.

Auch danach quälte ihn das Gefühl, er werde sein »Werk« nicht mehr schaffen. Er stürzte sich auf neue Aufgaben, in immer riskantere Unternehmen. Die Friedenszeit des Dritten Reiches ging zu Ende, die Epoche der Eroberungen und der Hybris begann.

Schon 1936 hatte Hitler erkannt: »Es gibt für mich zwei Möglichkeiten: Mit meinen Plänen ganz durchzukommen oder zu scheitern. Komme ich durch, dann werde ich einer der Größten der Geschichte -- scheitere ich, werde ich verurteilt, verabscheut und verdammt werden.«

Im nächsten Heft

Hitler stürzt die Wehrmachtführung und erzwingt den Anschluß Österreichs -- Start in die Barbarei: die »Reichskristallnacht« -- Hitler provoziert den Zweiten Weltkrieg -- Canaris: »Das ist das Ende Deutschlands«

Werner Maser
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Artikel 46 / 74
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