Gehören wir noch zum Westen?
Zwischen Libyen-Enthaltung und Europa-Krise: Der Historiker Heinrich August Winkler über die gefährliche Richtungslosigkeit der deutschen Politik
Heinrich August Winkler ist zwar seit vier Jahren von der Berliner Humboldt-Universität emeritiert - aber dennoch ein viel beschäftigter Mann. Zurzeit feilt der Historiker und erfolgreiche Buchautor an den letzten Zeilen des zweiten Bandes seiner "Geschichte des Westens", der im Herbst erscheinen soll. Für Richard Herzinger und Claus Christian Malzahn nahm er sich dennoch ein paar Stunden Zeit. Die Redakteure der "Welt am Sonntag" trafen Professor Winkler im "Alten Krug" in Berlin-Dahlem, einem mehr als 100 Jahre alten Ausflugslokal, das schon zur Kaiserzeit auf Postkarten verewigt worden ist. Das Gespräch begann nachmittags bei Sonnenschein unter freiem Himmel im Biergarten, wurde später wegen Platzregens unter einem Schirm fortgesetzt und endete am frühen Abend schließlich im wasserfesten Wirtshaus. Ins Stocken geriet es trotzdem nie. Winkler formuliert schnell und druckreif - im Gegensatz zu vielen Politikern, mit denen Malzahn und Herzinger bisher Gespräche geführt haben.
Welt am Sonntag: Herr Winkler, wir würden gern mit Ihnen über deutsche Sonderwege sprechen. Im UNSicherheitsrat hat die Bundesrepublik sich mit Russland und China enthalten, als militärische Maßnahmen gegen das diktatorische Regime von Gaddafi beschlossen wurden - seitdem ist das Verhältnis zu den USA getrübt. Und Anfang der Woche gibt es eine Allparteienkoalition gegen die Atomenergie, der Ausstieg ist endgültig beschlossen. Auch darüber wundern sich viele unserer europäischen Nachbarn.
Heinrich August Winkler: Von Bismarck stammt das schöne Wort: "Motiv ändert die Wirkung nicht." Die Motive für die Kehrtwende der schwarz-gelben Koalition in der Atompolitik mögen eher taktischer Natur gewesen sein. Die Wirkung dieses Handelns aber kann ich nicht bedauern. Die Frage der atomaren Endlagerung ist bisher nirgendwo gelöst. Und selbst in französischen Zeitungen wird prognostiziert, dass die Energiewende in der Bundesrepublik einen Technologieschub mit sich bringen wird, der die wirtschaftliche Potenz Deutschlands noch erhöhen dürfte. Der Ausstieg aus der Atomenergie bedeutet keineswegs einen gefährlichen deutschen Sonderweg. Es kann sehr gut sein, dass Deutschland hier eine Vorreiterrolle spielt, denen auch andere Staaten als die Schweiz folgen werden.
Welt am Sonntag: Die Kanzlerin hat in dieser Woche vom US-Präsidenten in Washington die "Medal of Freedom" verliehen bekommen, die höchste Auszeichnung, die in den USA an Zivilisten verliehen werden kann. Ist das transatlantische Verhältnis damit nun wieder in Ordnung gebracht?
Heinrich August Winkler: Zumindest darf man nun auf eine Verbesserung der Atmosphäre hoffen. Deutschland befindet sich nicht auf einem Sonderweg aus dem Westen heraus. Aber die Entscheidung zum Libyen-Einsatz war der größte strategische Fehler, den die jetzige Bundesregierung bisher begangen hat - und vermutlich der größte politische Fehler, der in den letzten Jahrzehnten in Deutschland auf außenpolitischem Gebiet überhaupt gemacht worden ist. Ich habe den Eindruck, dass im Augenblick aus dem Debakel gelernt wird und die Bundesregierung sich auf dem Wege einer Kurskorrektur befindet. Der eigentliche Fehler in Sachen Libyen-Einsatz war die kategorische Vorabentscheidung, dass die Bundeswehr auf keinen Fall an einem Militäreinsatz in Libyen teilnehmen dürfe. Da waren sich offensichtlich die Bundeskanzlerin, der Außen- und der Verteidigungsminister einig. Nachdem diese voreilige Selbstfesselung beschlossen war, schlitterte man am Ende in eine Situation, die unter allen Umständen hätte vermieden werden müssen: Die Selbstisolation, die Selbstmarginalisierung der Bundesrepublik. Im entscheidenden Augenblick waren innenpolitische Erwägungen, zwei bevorstehende Landtagswahlen, sehr viel wichtiger als die vorhersehbare Schwächung unseres Standings im Atlantischen Bündnis und der Europäischen Union.
Welt am Sonntag: Auch Kanzler Schröder stand 2002 und 2003 im Konflikt mit den USA, als es um den Einmarsch in den Irak ging. Sehen Sie Parallelen zur heutigen Situation?
Heinrich August Winkler: Anders als bei der damaligen Entscheidung, uns am Irak-Krieg nicht zu beteiligen, haben wir uns im Falle Libyen von sämtlichen Verbündeten distanziert. Damals saß die rot-grüne Bundesrepublik in einem gemeinsamen Boot mit Frankreich. Und gleichzeitig wurde die Kritik am Irak-Krieg auch in den USA immer stärker. Sie hat sich schließlich 2008 in der Wahl Barack Obamas niedergeschlagen. Obama ist einerseits der europäischste Präsident seit Langem, er hat aber gleichzeitig an Europa noch nicht das Interesse entwickelt, das die Europäer sich von ihm erhofft haben. Beim Thema Libyen sind wir Deutschen nun von den USA, Frankreich und Großbritannien getrennt. Die Frage, wie berechenbar die Bundesrepublik noch ist, wie ernst sie ihre Bündniszugehörigkeit nimmt, wird in den Hauptstädten unserer wichtigsten Verbündeten zurzeit in einer Art und Weise diskutiert, die uns sehr beunruhigen muss.
Welt am Sonntag: Wieso wird die Westbindung der Bundesrepublik eigentlich ausgerechnet von einer konservativ-liberalen Regierung infrage gestellt, von der man doch annehmen müsste, dass ihr Sonderwege und sonderbare Positionen in der Außenpolitik fremd sein sollten?
Heinrich August Winkler: Bei der FDP kann man schon seit Langem eine Tendenz zur Minimisierung der militärischen Seite der Bündnisverpflichtungen feststellen. Symptomatisch ist hier der gerade von der FDP immer wieder benutzte Begriff der "Parlamentsarmee". Ein völlig irreführender Terminus, der aus der Zeit des englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert stammt, wo das Parlamentsheer von Oliver Cromwell gegen die Armee des Königs kämpfte. Bismarck hat den Begriff des Parlamentsheeres später polemisch gegen die Liberalen benutzt. Dieser Begriff passt ganz und gar nicht in unsere Zeit. Wir haben eine strikte Kontrolle der Bundeswehr durch das Parlament - und das ist auch gut so. Aber man darf den "Parlamentsvorbehalt" nicht so auslegen, dass die Bundesrepublik außenpolitisch handlungsunfähig wird. Überraschend war, dass die Kanzlerin sich der von Guido Westerwelle vertretenen Linie in der Libyen-Frage angeschlossen hat. Kurzfristige innenpolitische Erwägungen waren da offenbar wichtiger als unsere langfristigen europäischen und transatlantischen Bindungen.
Welt am Sonntag: Aber haben diese kurzfristigen Erwägungen nicht einen systematischen Grund? Für Länder wie Frankreich oder Großbritannien lag eine militärische Option in Libyen immer auf dem Tisch. In Deutschland greift dagegen von Käßmann bis zur Kanzlerin ein Nationalpazifismus um sich.
Heinrich August Winkler: Sowohl die Westbindung als auch die seit Außenminister Kinkel sogenannte Kultur der Zurückhaltung entstammen dem Erbe der alten Bundesrepublik. Von 1949 bis 1990, also vier Jahrzehnte lang, war die Bundesrepublik kein vollsouveräner Staat. Die Verantwortung für Deutschland als Ganzes und für Berlin lag bei den Alliierten. An diesen Zustand haben wir uns sehr gewöhnt und es offenkundig bis heute nicht voll bewältigt, dass wir seit dem 3. Oktober 1990 nicht weniger souverän sind als die anderen Mitgliedstaaten der Nato und der EU. Wir sind ein postklassischer Nationalstaat. Also ein Staat, der gewisse Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen ausübt oder auf übernationale Einrichtungen überträgt. Innerhalb des Atlantischen Bündnisses haben wir dieselben Verpflichtungen wie alle anderen Mitgliedstaaten auch. Wenn wir uns davor drücken, wenn wir uns auf eine Politik nach dem Motto "Ich bin klein, mein Herz ist rein - drum sag ich weder Ja noch Nein" einlassen, wie das im Falle des Libyen-Einsatzes geschehen ist, dann betreiben wir eine Selbstmarginalisierung der Bundesrepublik. Das ist eine fatale Entwicklung, die wir schnellstmöglich korrigieren müssen. Verteidigungsminister de Maizière tut das auch bereits sehr nachdrücklich.
Welt am Sonntag: Wir sind nicht sicher, ob diese Bundesregierung dazu wirklich in der Lage ist. Wo ist die politische Gravität der Konservativen geblieben?
Heinrich August Winkler: Das frage ich mich auch. Wenn es tatsächlich zutrifft, dass zwei Drittel der Deutschen eine militärische Beteiligung an einem Libyen-Einsatz auf der Basis einer UN-Resolution ablehnten, ist das ja auch ein Reflex auf den Eindruck der Richtungslosigkeit der deutschen Politik.
Welt am Sonntag: Zwei Drittel der Deutschen waren grundsätzlich für einen Libyen-Einsatz - aber eben ohne deutsche Beteiligung. Was sagt uns das?
Heinrich August Winkler: Das zeigt, wie sehr wir uns an eine Kastanienpolitik gewöhnt haben. Die Kastanien sollen eben andere aus dem Feuer holen. Wir gefallen uns in der Rolle von Moralwächtern - frei nach Wilhelm Busch: "Sie haben alles hinter sich/ und sind, gottlob, recht tugendlich". Hätten die Verantwortlichen nicht nur aus dem Regierungslager, sondern auch aus der Opposition, das Thema Bündnisloyalität zum Thema eines öffentlichen Diskurses gemacht, sähen die Umfragen sicher anders aus. In der Union, bei Grünen und SPD wird inzwischen kräftig zurückgerudert, weil man sich der außenpolitischen Prioritäten erinnert. Nur die FDP scheint eine alte englische Weisheit nicht beherzigen zu wollen: "If you are in a hole, stop digging" - wenn du in ein Loch gefallen bist, hör auf zu buddeln. Dieses ständige Verteidigen einer Fehlentscheidung ist nicht gerade Ausdruck eines Lernprozesses, wie er inzwischen bei den anderen drei Parteien begonnen hat.
Welt am Sonntag: Auch bei der Tötung Osama Bin Ladens wurden Friktionen zwischen Deutschland und den USA sichtbar. Wir sprechen oft vom "Westen" als einem einheitlichen politischen Konstrukt. Gibt es diesen "Westen" überhaupt noch? Zerfällt er?
Heinrich August Winkler: Der außenpolitische Konsens der Westbindung ist eine historische Errungenschaft. Natürlich kommt es innerhalb des transatlantischen Westens immer wieder zu Friktionen. Sie dürfen uns aber nicht daran hindern, das gemeinsame Fundament im Auge zu behalten. Wann ist der Westen eine politische Einheit gewesen, wann war er ein politisches Subjekt? Er war es wohl nie vor 1945. Und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 ist die allerwichtigste Klammer des Westens entfallen, nämlich der Gegensatz zum totalitären Kommunismus. Also kommt es darauf an, sich immer wieder bewusst zu machen, was diesen Westen im Innersten zusammenhält. Bei allen transatlantischen Meinungsverschiedenheiten, bei den häufigen Differenzen zwischen Europäern und Amerikanern, geht es fast immer um unterschiedliche Auslegungen gemeinsamer Werte. Die Werte des Westens gehen auf die beiden transatlantischen Revolutionen zurück. Auf die amerikanische Revolution des Jahres 1776 und die Französische Revolution des Jahres 1789. Beide Umwälzungen sind auch das Ergebnis einer transatlantischen intellektuellen Kooperation. Wenn sich die EU als Wertegemeinschaft definiert, muss sie sich klar sein, dass Europa im geografischen Sinn nie eine Wertegemeinschaft war. Unsere Werte sind westliche Werte, die Ideen von 1776 und 1789. Es hat fast 200 Jahre gedauert, bis der alte Okzident sich auf dieses Projekt als gemeinsame Grundlage verständigt hat. Auf die Grundlage der unveräußerlichen Menschenrechte. Auf das Regieren auf der Basis von Gesetzen, die Rule of law. Auf die Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie. Dieses normative Projekt des Westens sollte uns in Fleisch und Blut übergegangen sein, weil Deutschland teuer dafür bezahlt hat, dass seine Eliten lange Zeit glaubten, sich dagegenstellen zu können. Die Herrschaft des Nationalsozialismus war der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen den Westen. Um die Folgerungen aus unserer Westbindung muss in der Bundesrepublik offenbar immer wieder neu gerungen werden.
Welt am Sonntag: In der deutschen Politik finden sich immer weniger Akteure, die Außenpolitik professionell zu ihrem Thema machen. Und auch diejenigen, die sich mit Außenpolitik beschäftigen, machen ihre Positionen oft von flüchtigen innenpolitischen Stimmungen abhängig, anstatt sie geschichtlich herzuleiten. Für einen Außenminister Joschka Fischer war die Westbindung eine selbstverständliche Grundfeste der Republik und nicht verhandelbar. Gilt das auch für Guido Westerwelle?
Heinrich August Winkler: Wenn es Zweifel daran gibt, muss er sie ausräumen. Jürgen Habermas hat auf dem Höhepunkt des Historikerstreits 1986 einen Satz niedergeschrieben, mit dem er, ohne es zu wollen, die posthume adenauersche Linke begründet hat. Der Satz lautet: "Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Errungenschaft unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte." Das ist ein Satz, mit dem sich die intellektuelle Linke zu der von Adenauer begründeten Westbindung bekannte, die sie zuvor lange bekämpft hatte.
Welt am Sonntag: Das Projekt der Europäischen Union steckt in der Krise. Der Euro schwebt in Gefahr, in manchen Ländern feiern Nationalisten große Erfolge.
Heinrich August Winkler: Es gibt tatsächlich Tendenzen der Renationalisierung in Europa. 2004 traten auch Staaten aus Ostmitteleuropa bei, die jahrzehntelang nicht souverän gewesen waren und Probleme hatten, Einschränkungen ihrer neu gewonnenen Eigenständigkeit zu akzeptieren. Aber auch die älteren Mitglieder haben die Notwendigkeit einer immer engeren Union in den letzten beiden Jahrzehnten nicht mehr als Imperativ begriffen, vermutlich auch, weil der Außendruck des Kalten Krieges fehlt. Die Weichen sind 1990 bei den Verhandlungen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gestellt worden. Die Position der alten Bundesrepublik war es, gleichzeitig eine politische Union und eine Währungsunion herbeizuführen. 1990 hat der französische Staatspräsident François Mitterrand vehement auf eine Ablösung der D-Mark durch eine europäische Währung gedrängt, weil er von einem vereinten Deutschland, das seine Währungssouveränität behielt, eine ökonomisch derart beherrschende Rolle befürchtete, dass daraus auch eine politische Hegemonie erwachsen würde. Helmut Kohl hat sich deshalb auf getrennte Regierungskonferenzen zur Vorbereitung der politischen Union und der Währungsunion eingelassen. Das Ergebnis war, dass die Währungsunion heute da ist, die politische Union aber in weiter Ferne liegt. Im Prinzip haben alle jene recht, die damals gewarnt haben: Eine Währungsunion kann nur funktionieren, wenn sie mit einer politischen Union verbunden ist. Das, was damals nicht zu erreichen war, müssen wir heute nachholen. Wir müssen am Projekt der politischen Union weiter arbeiten und uns, damit sie möglich wird, auf eine Situation vorbereiten, in der sogar ein Verfassungsreferendum nach Artikel 146 des Grundgesetzes notwendig werden könnte. Der ganze Euro-Frust und der antieuropäische Populismus haben mit der Bedenkenlosigkeit zu tun, mit der alle Regierungen die EU als eine Art Exekutivdomäne betrachtet haben. Grundlegende Entscheidungen wie etwa die Verleihung des Kandidatenstatus an die Türkei und die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit diesem Bewerberland sind ohne parlamentarischen oder öffentlichen Diskurs herbeigeführt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat vor zwei Jahren in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag mit Recht die Integrationsverantwortung der Parlamente betont. Seitdem sind die Europa-Debatten des Bundestages lebhafter und kontroverser geworden. Mehr Parlamentsbeteiligung ist das einzige Mittel, mit dem man dem illusionären und gefährlichen Ruf nach einer plebiszitären Legitimation der Europapolitik entgegentreten kann. Plebiszite würden unter den gegebenen Bedingungen eher Wasser auf die Mühlen der Populisten als die der Europäer sein. Die nationalen Parlamente müssen sich als Partner des EU-Parlaments viel stärker als bisher in die Europapolitik einschalten. Wir müssen mehr repräsentative Demokratie wagen.
Welt am Sonntag: Dennoch ist eine gewisse Lustlosigkeit bei diesem Thema zu spüren, wenn nicht gar eine Genervtheit. Das Projekt Europa hat kaum noch glühende Befürworter.
Heinrich August Winkler: Vor allem Wolfgang Schäuble und Peer Steinbrück haben in Sachen Europa immer wieder klar Position bezogen. Es gibt da aber auch eine Verantwortung der Medien, auch solcher Printmedien, die ein Millionenpublikum erreichen. Wenn die eine antieuropäische Stimmung erzeugen, darf man nicht mit dem Finger auf die Politik zeigen. Umgekehrt ist es kein Alibi für die Politik, wenn man sich nur auf Medien und Meinungsumfragen beruft. Auch hier gilt: Das Bild der öffentlichen Meinung ist kein naturwüchsiges Phänomen. Es reflektiert auch den Mangel an Vorgaben und Perspektiven, an Richtungsanzeigen seitens der Politik. Überzeugte Europäer dürfen es nicht so weit kommen lassen, dass sich eine wild wuchernde Diskussion faktisch ohne Beteiligung der politischen Klasse entwickelt.
Welt am Sonntag: Können Sie sich eine historische Situation vorstellen, in der das Projekt Europa implodiert?
Heinrich August Winkler: Die Gefahr besteht. Wenn wir aus Angst vor einem Zusammenstoß mit der vermeintlichen öffentlichen Meinung versäumen, beharrlich auf die existenzielle Bedeutung Europas für Deutschland zu verweisen, dürfen wir uns über Euro-Frust nicht wundern. Wir dürfen die Frage nach der "Finalität", dem Ziel, des europäischen Einigungsprozesses nicht länger verdrängen. Es ist höchste Zeit für eine Grundsatzrede der Bundeskanzlerin und eine große Debatte im Bundestag - und zwar unter dem Willy-Brandt-Motto "Über den Tag hinaus".