Nationalsozialismus

Adolf Hitler wurde spät zum Antisemiten

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Von Sven-Felix KellerhoffLeitender Redakteur Geschichte
Veröffentlicht am 03.03.2009Lesedauer: 5 Minuten
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Quelle: Verlag

Er weiß, dass er damit anecken wird: Der Journalist Ralf Georg Reuth hat Quellen und Analysen über Hitlers Antisemitismus neu gelesen. Dabei kommt er zu überraschenden Interpretationen. In einem Buch erklärt der Rommel- und Goebbels-Biograf, wann und wo Adolf Hitlers Judenhass entstand.

"Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum." So lautet der Schlusssatz von Adolf Hitlers "politischem Testament", seinem letzten Schriftstück. Knapp 36 Stunden nach der Unterschrift beging der "Führer" Selbstmord.

Am Ende von Hitlers Leben stand also der Rassenwahn; er zog sich, das ist bekannt, als Konstante durch sein unseliges Wirken als Politiker. Aber woher rührte dieser pathologische Antisemitismus, der zum Mord an sechs Millionen Juden führte? Wann und wo nahm Hitlers Judenhass seinen Anfang?

Darauf geben die gängigsten unter den mehr als 70 Hitler-Biografien, etwa von Allan Bullock, Joachim Fest und zuletzt Ian Kershaw, bei allen anderen Unterschieden überraschend ähnliche Antworten: Schon in den Jahren als gescheiterter Kunststudent in Wien habe Hitler den Rassenhass der Vielvölkermetropole in sich aufgesogen. Damit folgen die drei renommierten Biografen Hitlers eigener Darstellung in seinem Bekenntnisbuch "Mein Kampf". Aber kann man diese nachweislich manipulierte Autobiografie wirklich ernst nehmen?

Der Berliner "Bild"-Journalist Ralf Georg Reuth hat alle verfügbaren Quellen und Analysen über Hitlers Antisemitismus gegen den Strich üblicher Interpretationen neu gelesen. Sein Buch "Hitlers Judenhass" (Piper Verlag. 375 S., 22,95 Euro) demonstriert, dass die Auswertung im Prinzip bekannter Fakten zu bemerkenswerten und weiterführenden Ergebnissen führen kann.

Reuth geht von zwei richtigen Prämissen aus: Erstens glaubt er ungeprüft kein Wort Hitlers; zweitens räumt er der Historisierung von Deutschlands brauner Vergangenheit eindeutig den Vorrang ein vor einer volkspädagogischen Art der Auseinandersetzung. Entscheidend ist eben, historische Vorgänge aus sich heraus schlüssig zu erklären, auch wenn sie dadurch komplex werden und gegen gewohnte Sichtweisen verstoßen.

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Der vor allem als Autor der bisher besten Goebbels-Biografie bekannte Historiker weiß, dass er damit anecken kann. Doch das stört ihn nicht. Stattdessen verweist er schon in der Einleitung auf eine Einsicht Ernst Noltes. Der umstrittene Ideenhistoriker hatte im "Historikerstreit" Mitte der Achtziger auf die Bedeutung des in Hitlers Wahrnehmung "jüdischen" Bolschewismus verwiesen. In der polemischen, vor allem von Jürgen Habermas angeheizten Debatte um Nolte und seine tatsächlich irreführenden Zuspitzungen über das Verhältnis von Bolschewismus und NS-Ideologie ging diese Erkenntnis zu Unrecht unter.

Seriöse Ideengeschichte setzt voraus, die untrennbar verschränkten, aber zugleich keineswegs starren Ebenen Realität und Ideologie souverän zu überblicken. An dieser Aufgabe sind schon renommierte Ordinarien gescheitert; man denkt an Eberhard Jäckel und seine schlichte "intentionalistische" Erklärung für den Holocaust in den beiden Bändchen "Hitlers Weltanschauung" und "Hitlers Herrschaft".

Hans-Ulrich Wehler dagegen, in dessen strukturalistischem Geschichtsbild der frühen Achtzigerjahre das politische Charisma als eigenständiges Element keinen Platz fand, hat im vierten Band seiner Gesellschaftsgeschichte 2003 und in einer gerade erschienenen Auskopplung daraus über den Nationalsozialismus (C. H. Beck Verlag. 320 Seiten, 19,90 Euro) die Bedeutung der Person Hitler durchaus erkannt. Eine überzeugende Erklärung für Hitlers radikalen Rassenwahn kann Wehler allerdings auch nicht anbieten.

Diese Lücke füllt Reuth überzeugend. Gestützt auf Brigitte Hamanns Kulturgeschichte "Hitlers Wien" und Anton Joachimthalers schwer lesbare Fleißarbeit "Hitlers Weg begann in München" zeigt er zunächst, dass die gescheiterte Existenz Hitler weder in Wien ein Antisemit war noch während des Ersten Weltkrieges. Weitere, bisher zu wenig wahrgenommene Quellenfunde zeigen zudem, dass der wurzellose österreichische Gefreite in München zur Jahreswende 1918/19 wie viele seiner Kameraden der Mehrheitssozialdemokratie zuneigte. Er ließ sich sogar zum Soldatenrat wählen.

Ein bislang fast unbekanntes Foto zeigt Hitler, wie er am 26. Februar 1919 dem Trauerzug für den ermordeten bayerischen Revolutionsministerpräsidenten Kurt Eisner zusieht. In "Mein Kampf" behauptete der NSDAP-Chef dagegen, erst im März 1919 nach München gekommen zu sein. Fest steht jedoch, dass Hitler mindestens zehn Wochen lang zu den Unterstützern der linken Räteregierung gehörte. In dieser Zeit kann er, schließt Reuth, keinesfalls bereits ein radikaler Judenfeind gewesen sein.

Alles spricht dafür, dass die "Inkubationszeit" des Antisemiten Hitler in den Wochen zwischen seiner Wahl zum "Ersatzbataillonsrat" des 2. Bayerischen Infanterieregiments am 16. April 1919 und seiner Abordnung zu einem Lehrgang lag, der ihn befähigen sollte, antibolschewistische Propaganda zu betreiben; das war Anfang Juni 1919. Just in diese Zeit fiel die brutale Zerschlagung der Münchner Räterepublik. Einige ihrer Anführer stammten aus jüdischen Familien, hatten sich allerdings zugunsten ihrer marxistischen Überzeugung von diesen Wurzeln gelöst. Für die lange vor Hitler in München aktiven völkischen Ideologen machte das aber keinen Unterschied.

Reuth zeigt, dass in diesem Milieu jene Motive kursierten, die Hitler fast passgenau in seine "Weltanschauung" übernahm. Wohl nur im München des April und Mai 1919 konnte das Hirngespinst entstehen, Bolschewismus und Kapitalismus seien gleichermaßen von "Juden" dominiert. Dabei spielt es keine Rolle, dass diese Weltsicht natürlich vereinfacht bis zur völligen Verfälschung war. "Entscheidend ist, dass der Mythos als solcher existierte", stellt Reuth fest.

Ernst Nolte hatte Hitlers Vernichtungswahn vor allem aus den Untaten der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg hergeleitet. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass es die Wahrnehmung der Räterepublik war, die 1919 aus dem entwurzelten Dreißigjährigen einen rasenden Judenhasser machte. Verschärft worden sein dürfte diese Entwicklung durch den Eifer des Renegaten, der sein für ihn im Rückblick falsches Engagement für die Räte überkompensierte.

Ralf Georg Reuths Herleitung von Hitlers Judenhass ist weit komplexer als die gängigen Deutungen, etwa Kershaws. Wer sich jedoch auf Reuths Argumentation einlässt, erkennt ihre Erklärungskraft. Für die Ideologiegeschichte ist sein Buch ein wichtiger Fortschritt.


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