8. Fortsetzung
Auf einem Ritt durch den Berliner Tiergarten stellte der Gestapo-Verwaltungschef Werner Best seinem Begleiter eine Frage, die damals -- es war im März 1939 -- gläubigen Nationalsozialisten nahezu undenkbar schien: ob die Politik des Führers überhaupt noch mit den deutschen Interessen vereinbar sei.
Best meditierte: »Bisher haben uns die Leute geglaubt, daà der Nationalsozialismus die völkische Idee verkörpert und daà diese völkische Idee Grenzen kennt. Mit dem Einmarsch in Prag aber wird der Nationalsozialismus zum Imperialismus.«
Derlei Ãberlegungen bewegten manche Eingeweihte, seit Adolf Hitler immer gefährlichere internationale Krisen provozierte und den europäischen Frieden aufs Spiel setzte. Von der Idee besessen, dem Reich neuen »Lebensraum« schaffen zu müssen, brach Hitler ein Stück nach dem anderen aus Europas Staatenordnung heraus.
Längst hatte er die Grenzen überschritten. die selbst Nationalsozialisten dem deutschen Machtstaat zogen; Hitler träumte von einem neuen Germanenzug in die Weiten RuÃlands, ihm schwebte eine »rassische Neuordnung Europas« vor. Das »Kleinstaatengerümpel«, erklärte er später, müsse so schnell wie möglich liquidiert werden, Europa könne »eine klare Organisation nur durch die Deutschen erfahren«.
Mit dem auÃenpolitischen Eroberungsdrang verband sich eine Radikalisierung des NS-Regimes, die an die beklemmendsten Phasen nationalsozialistischer »Kampfzeit« erinnerte. Die Kampagne gegen die Kirchen und die bürgerlich-konservative Gesellschaftsschicht wurde verschärft, das Schattenreich der Gestapo weitete sich zusehends aus -- schon hatten die Judenpogrome des 9. November 1938 deutlicher als bisher eine Barbarei offenbart, die bald zum Herrschaftsstil des Dritten Reiches werden sollte.
Entsetzt beobachteten Freunde und Anhänger Hitlers den neuen Kurs: So herrisch, so unbelehrbar hatten sie Hitler noch nie erlebt. Rudolf HeÃ, »Stellvertreter des Führers«, klagte im Freundeskreis, mit dem Chef sei kaum noch zu reden.
Hermann Göring wetterte, der Juden-Pogrom sei »die letzte Schweinerei« gewesen, die er gedeckt habe. Und der Reichskirchenminister Kerrl protestierte offen bei Hitler: »Wenn Ihr Kurs gegen das Christentum geht, so folge ich nicht.«
Der Industrielle Fritz Thyssen. Förderer Hitlers in den Kampfjahren der NSDAP und Mitfinanzier des Braunen Hauses, war derart irritiert, daà er es 1938 ablehnte, sich von Hitler zum Staatsrat ernennen zu lassen, und der Ãgyptologe Freiherr von Bissing, der sich 1923 von Hitler die Rettung Deutschlands erhofft hatte, schickte ihm aus Protest gegen dessen Kirchenpolitik das Goldene Parteiabzeichen zurück.
Nicht einmal die Verleger-Frau Elsa Bruckmann, vor 1933 Hitlers einfluÃreichste Förderin, mochte noch länger an ihren Führer glauben. »Frau Bruckmann. notierte sich der NS-Gegner Ulrich von Hassell, »ist immer stärker verzweifelt über die Entwicklung des Mannes, für den sie alles eingesetzt hat. Sie klammert sich noch an die Restbestände ihrer sentimentalen Anhänglichkeit und ihrer Hoffnungen. aber mit ihrem Verstand hat sie ihn gänzlich abgeschrieben.«
Hitlers Freunde und Bewunderer standen vor einem Rätsel. Sie konnten den menschenfremden Diktator und zynischen Vabanquespieler, der sich über fast alle Normen der menschlichen Gesellschaft hinwegsetzte, nicht in Einklang bringen mit dem nahezu nationalkonservativen Staatsmann. der nach 1933 scheinbar so rational und überlegt die AuÃenpolitik geführt hatte.
War das noch derselbe Hitler, der einst im Krieg einen »Wahnsinn ohne Ende« und im Christentum »die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen
Lebens« gesehen hatte und keinen anderen Ehrgeiz gekannt haben sollte als den, daà man ihm »eines Tages ein Denkmal errichte als dem Manne, der Frankreich und Deutschland versöhnt hat«? Sie wuÃten es nicht anders: Hitler muÃte sich radikal verändert haben.
Das Rätsel dieser Wandlung ist ungeklärt geblieben -- bis auf den heutigen Tag. Die meisten Hitler-Biographen freilich wissen eine Erklärung, für sie Ist ausgemacht: Es war alles nur Schauspielerei.
Von Anfang an, so lautet ihre These. habe Hitler den Krieg und den Raubzug nach dem Osten anvisiert und in meisterhafter Tarnung den totalitären Staat auf den Waffengang ausgerichtet. Zug um Zug habe er dann, als die Tarnung nicht mehr opportun war, die Expansionspläne verwirklicht, die von ihm schon Jahre zuvor in seinem Buch »Mein Kampf« publiziert worden seien.
Die Biographen unterstellen Hitler damit eine Systematik und PlanmäÃigkeit, die ihm zeitlebens fremd war. Ohne ethische Prinzipien und moralische Bindungen, durch keine Ideologie festgelegt, hatte er sich opportunistisch vorangearbeitet -- jede Chance nutzend, dabei stets in Wartestellung und selten die Initiative ergreifend.
Der Mann, der Schreibtisch-Routine haÃte und instinktiv jeder regelmäÃigen Arbeit auswich, war schwerlich dazu geeignet, nach einem strengen politischen Fahrplan zu handeln. Hitler besaà gewià einige Faustregeln aus dem Vokabular des Sozialdarwinismus und der völkischen Eroberungsideologie, aber im Grunde lebte er vom Augenblick -- ihn wuÃte er. manchmal, souverän zu nutzen.
Auch Adolf Hitler illustriert nur die Erkenntnis des britischen Historikers A. J. P. Taylor, daà die Staatsmänner eher auf Ereignisse reagieren denn nach vorgefaÃten Plänen handeln. »Die Systeme«, spottet er, »werden von den Historikern erschaffen, wie es Napoleon erging, und die Systeme, die Hitler zugeschrieben werden, stammen in Wirklichkeit von (den Deutschland-Experten) Elizabeth Wiskemann und Alan Bullock.«
Der Hitler der Jahre zwischen 1933 und 1939 lieÃe sich denn auch besser erklären, würde man ihn unter die gleichsam »normalen« deutschen Kanzler der Zwischenkriegszeit einordnen. Auch der AuÃenpolitiker Hitler war auf seine Art das Produkt einer Zeit, deren Staatsmänner noch an den ausschlieÃlichen Wert der Nationalstaaten glaubten und den Krieg als Ultima ratio der AuÃenpolitik ganz offen einkalkulierten.
Wie seine republikanischen Vorgänger wollte Hitler die für Deutschland ungünstigen Ergebnisse des Ersten Weltkrieges korrigieren und jene Revisionspolitik fortführen, die auch ohne ihn »Deutschland manchen territorialen Gewinn eingebracht, Berlin die dominierende Stellung auf dem Kontinent verschafft und das europäische Gleichgewicht zerstört« hätte -- so der Historiker Hermann Graml.
* Auf der Hochzeit Görings, 1935
Die fremden Staatskanzleien sahen denn auch in Hitler zuvörderst einen Erben des deutschen Revisionismus. Er bediente sich des klassischen Apparats der revisionistischen Politik, der konventionellen Diplomatie. Das Auswärtige Amt unter dem konservativen Minister Constantin Freiherr von Neurath arbeitete weiter wie in Weimarer Zeiten -- Grund genug für die Sowjet-Union, im Mai 1933 als erster Staat mit dem neuen Kanzler zu paktieren: Mos kau verlängerte den deutsch sowjetischen Freundschaftsvertrag von 1926.
»Wenn Frankreich Staatsmänner hat, werden sie über uns herfallen.«
Entsprechend konventionell var Hitlers auÃenpolitisches Programm. Er verlangte die Beseitigung der Beschränkungen, die Deutschland im Versailler Friedensvertrag auferlegt worden waren: seine Lagebeurteilung unterschied sich kaum von der seiner Vorgänger.
Schon am 4. Dezember 1932 hatte Hitler in einem Brief an den damaligen Obersten Walter von Reichenau festgestellt:
Der Ausgang des Weltkrieges hat Frankreich nicht die restlose Erreichens; der gehegten Kriegsziele gestattet. Insbesondere gingen die Hoffnungen auf einen allgemeinen Zerfall des Reiches nicht in Erfüllung. Der Friedensvertrag von Versailles war daher von dem französischen Bestreben diktiert, für die nächste Zeit eine möglichst breite staatliche Interessengemeinschaft gegen Deutschland aufrechtzuerhalten. Dem Zweckchaoten in erster Linie die territorialen Beschneidungen des Reichsgebietes. Indem man fast sämtliche der umliegenden Staaten mit deutschem Landbesitz bedachte, hoffte man, um Deutschland einen Ring der durch gemeinsame Interessen miteinander verbundenen Nationen zu schmieden. Im Osten sollte dabei an Stelle des zu dieser Zeit nicht ins Gewicht fallenden RuÃland das von Frankreich abhängige Polen treten.
Daraus folgerte Hitler, Deutschland müsse sich, um den französischen »Einkreisungsring« zu sprengen, zunächst einmal von den militärischen Verbotsklauseln des Versailler Vertrages freimachen und sofort aufrüsten -- auch gegen den Widerstand Frankreichs. Dazu brauche man Bundesgenossen. Zu Reichenau: »Ich habe seit nunmehr rund zwölf Jahren unentwegt vorgeschlagen, eine engere Verbindung einerseits zu Italien und andererseits zu England als wünschenswertestes auÃenpolitisches Ziel anzustreben.«
Das war im Grunde Hitlers ganzes Programm. Es erschien ihm heikel genug; er warnte, das Reich dürfe nicht allzu laut die militärische Gleichberechtigung mit dem hochgerüsteten Frankreich verlangen. Hitler am 3. Februar 1933 vor den Befehlshabern der Reichswehr:
Gefährlichste Zeit ist die des Aufbaus der Wehrmacht. Da wird sich zeigen, ob Frankreich Staatsmänner hat; wenn ja, wird es uns nicht Zeit lassen, sondern über uns herfallen (vermutlich mit Ost-Trabanten).
Erst als er erkannte, daà Frankreichs übersteigerte Sicherheitspolitik von den übrigen Teilnehmern der in Genf tagenden Abrüstungskonferenz nicht gebilligt wurde, wagte er sich nach vorn. Er nahm die Weigerung der französischen Delegation, den Deutschen die militärische Gleichberechtigung zuzugestehen, zum Anlaà einer spektakulären Aktion: Hitler erklärte im Oktober 1933 den Austritt Deutschlands aus Abrüstungskonferenz und Völkerbund.
Hitlers Kabinett erschrak über solche Eigenmächtigkeit, doch der Kanzler beruhigte die Minister: »Der kritische Moment dürfte überwunden sein.« Er behielt recht; die Politik der Sondermeldungen, Ãberraschungscoups und einsamen Hitler-Beschlüsse hatte begonnen.
Dabei folgte Hitlers diplomatische Technik einem schlichten Muster. Er wartete immer ab, bis seine französischen Gegenspieler einen Zug unternahmen, der Paris tatsächlich oder nur scheinbar ins Unrecht setzte; dann folgte er mit einer eigenen Aktion zum weiteren Abbau der Versailler Friedensordnung, ergänzt durch pathetische Friedensbekundungen und Versöhnungsgesten. Das hörte sich so an:
Selbst bei ausschlaggebendem Erfolg einer neuen europäischen Gewaltlösung würde als Ergebnis nur noch eine VergröÃerung der Störung des europäischen Gleichgewichts eintreten und damit so oder so der Keim für spätere neue Gegensätze und neue Verwicklungen gelegt werden. Neue Kriege, neue Opfer, neue Unsicherheiten und eine neue wirtschaftliche Not würden die Folgen sein.
Das war Taktik, lieà jedoch zugleich auch anklingen, was einst der Ex-Gefreite Hitler in den frühen zwanziger Jahren gedacht und gefühlt hatte. Nicht selten beteuerte der Kanzler, er sei »schuldlos an den Kriegsursachen, schuldlos am Kriegsbeginn, ein Soldat wie acht oder zehn Millionen andere auch« -- kaum anders hatte er sich 1920 ausgedrückt.
Es ist nicht auszuschlieÃen, daà der Kanzler Hitler wirklich glaubte, was er da formulierte. An einen Krieg hat er damals schwerlich gedacht, zumal die AuÃenpolitik nicht im Zentrum seiner Ãberlegungen stand. Zunächst müsse er, erklärte Hitler 1933 dem Botschafter Nadolny, »ganz Deutschland nationalsozialistisch machen«, dann könne er sich »uni die AuÃenpolitik kümmern«.
Polen bietet einen Nichtangriffspakt an.
Gleichwohl war er entschlossen, jede Chance zu nutzen, die sich deutscher Machterweiterung bot. Die ersten Gesten erwachender deutscher Kraft zeitigten ein unerwartetes Ergebnis: Polens antikommunistische Regierung offerierte Berlin einen deutsch-polnischen Nichtangriffspakt.
Hitler griff zu, und im Januar 1934 wurde der Vertrag unterzeichnet -. erster Bruch mit der Revisionspolitik der Weimarer Republik, der vor allem die antislawischen Instinkte deutscher Nationalisten erregte. Im deutschen Feindlagebild galt bis dahin RuÃland als Bundesgenosse, Polen als »Erzfeind": der Antibolschewist Hitler kehrte das Verhältnis radikal um: »RuÃland ist kein Staat, sondern eine Weltanschauung« Mit seinem antibolschewistischen Programm versuchte er den auÃenpolitischen Gegenspieler zu unterlaufen; die antikommunistischen Ressentiments europäischer Bürger wuÃte er mühelos für sich zu mobilisieren.
Auf den ersten Erfolg fiel jedoch bald ein Schatten: Das projektierte Bündnis mit dem faschistischen Italien kam zunächst nicht zustande. Im Juni 1934 trafen sich zwar Hitler und Benito Mussolini in Venedig zum erstenmal, doch sie gingen unzufrieden auseinander: Die Ãsterreich-Frage war ungelöst geblieben.
Seit Beginn seiner Kanzlerschaft war Hitler entschlossen, Ãsterreich mit dem Reich zu vereinigen. Einen Augenblick hatte er mit dem Gedanken gespielt, durch revolutionäre Mittel, etwa durch einen Putsch, den Anschluà zu erzwingen, war davon jedoch rasch wieder abgekommen.
Das rechtsautoritäre Regime in Ãsterreich konnte allzu leicht die noch schwache NS-Partei bezwingen, zudem scheute sich Hitler, eine internationale Krise auszulösen: Frankreich und andere GroÃmächte wachten scharf darüber, daà nicht ein übermächtiges GroÃdeutschland entstand. Der Sieg über Versailles -- »gröÃte Gnade meines Lebens«.
Vor allem Italiens Duce befürchtete, ein groÃdeutscher Koloà könnte eines Tages die Rückgabe des 1919 an Italien gefallenen Südtirol erzwingen. Deshalb zögerte cr auch, sich mit den Deutschen endgültig zu verbünden. Hitler hatte daher allen Grund, die Ãsterreich-Frage zu vertagen.
Eine Gruppe unter den österreichischen Nationalsozialisten mochte indes nicht langer warten und schlug los. ohne Hitler vorher ins Bild zu setzen. NS-Putschisten besetzten am 25. Juli 1934 in Wien das Bundeskanzleramt und ermordeten den Kanzler Engelbert DollfuÃ. In den Provinzen jedoch miÃlang der Aufstand; innerhalb von 24 Stunden war der braune Putsch niedergeschlagen.
Eine internationale Protestwelle brandete auf. Zum erstenmal galt Hitler als ein Mörder, gegen den alle Kräfte der zivilisierten Welt aufzubieten selbstverständliche Pflicht der Staatsmänner war, »Wir stehen vor einem zweiten Sarajewo«, rief Hitler seinem ehemaligen Vizekanzler Franz von Papen entgegen und bedrängte ihn, als Versöhnungs-Botschafter nach Wien zu gehen.
Sobald das Ãsterreich-Thema wieder auf die Szene diplomatischer Routine heruntergespielt war, setzte Hitler den Kampf gegen die Restbestände des Versailler Friedensvertrages fort. Inzwischen war die deutsche Wiederaufrüstung vorsichtig angelaufen; in dem Reichsbank-Präsidenten Hjalmar Schacht hatte Hitler einen Mann gefunden, der mit einem ungewöhnlichen Finanzierungssystem die Rüstungsindustrie auf Touren zu bringen verstand.
In der AuÃenpolitik verhielt sich Hitler ruhig, bis Frankreichs Staatsmänner einen neuen Zug unternahmen. Mitte März 1935 kündigte die Pariser Regierung die Einführung einer zwei jährigen Militärdienstzeit an. Die Geste verstimmte das nichtdeutsche Europa. das noch weitgehend an die Möglichkeit der Abrüstung glaubte.
Hitler reagierte prompt: Er proklamierte die allgemeine Wehrpflicht und sagte sich von allen Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages los.
England. Frankreich und Italien pro. testierten, doch kurz darauf erschien eine britische Regierungsdelegation in Berlin, um dem Reichskanzler für die »Abwehr der bolschewistischen Weltgefahr« zu danken. Hitler bot England flink ein Abkommen über Flottenbegrenzung an, das die Briten auch akzeptierten, und damit war ihm der zweite Einbruch in die alliierte Einheitsfront geglückt.
Von Stund an wuÃte der Diktator, daà er mit der Sympathie der konservativen Staatsmänner Englands rechnen konnte, Sie waren froh, daà Hitler sich mit der »bolschewistischen Weltgefahr« beschäftigte, und sahen in den Nachkriegs-Deutschen noch immer die Opfer französischer GroÃmachtallüren. Die Londoner »Times« brachte das im Juli 1934 auf die Formel: »Für die kommenden Jahre besteht mehr AnlaÃ, für Deutschland zu fürchten, als sich vor Deutschland zu fürchten.«
Auf Englands stillschweigendes Einverständnis konnte Hitler denn auch hoffen, als er im März 1936 seinen gewagtesten Schlag führte. Wieder hatte ihm Frankreich einen Vorwand geliefert: Paris beschloÃ, einen französisch-sowjetischen Militärpakt zu ratifizieren. Daraufhin bat Hitler die Botschafter Englands und Frankreichs in die Reichskanzlei und eröffnete ihnen, daà Deutschlands Wehrmacht zur Stunde die entmilitarisierten Gebiete am linken Rheinufer besetze.
Seine Generale, wieder zu spät eingeweiht, waren bestürzt. Ein Gegenschlag der französischen Armee hätte den Coup binnen weniger Stunden als Bluff entlarven können -- die Wehrmacht war zu keinem ernsthaften Widerstand fähig. Doch Frankreich marschierte nicht, sondern begnügte sich mit einem müden Protest.
Und wieder garnierte Hitler seinen Kraftakt mit einem Kranz verlockender Angebote an die Düpierten. Er wollte mehrseitige Verträge über die deutsche Westgrenze abschlieÃen, er bot Frankreich. Belgien und Holland Nichtangriffspakte auf 25 Jahre an, er stellte sogar die Rückkehr Deutschlands in den Völkerbund in Aussicht. -- Doch die Projekte wurden nie ernsthaft in Angriff genommen, Hitler sonnte sich in dem Ruf, das »Joch des Versailler Vertrages« abgeschüttelt zu haben. Vor Hunderttausenden deklamierte er: »Daà die Vorsehung mich bestimmt hat, diese Handlung zu vollziehen, empfinde ich als die gröÃte Gnade meines Lebens.«
Bald dämmerte ihm jedoch, daà die AuÃenpolitik schwerer geworden war, Mit dem Reizwort »Versailles« lieÃen sich keine leichten Siege mehr erringen. nachdem er die Verbotsklauseln des Vertrages auÃer Kraft gesetzt hatte. Noch eben auf dem Höhepunkt politischer Erpressungen, versank der AuÃenpolitiker Hitler in Grübelei und Planspielerei.
Seiner AuÃenpolitik fehlten plötzlich neue Ziele. Das Verhältnis zu Italien war noch ungeklärt, die Beziehungen zu Ãsterreich waren oberflächlich geordnet, seit der DollfuÃ-Nachfolger Kurt von Schuschnigg am 11. Juli 1936 ein Abkommen unterzeichnet hatte, in dem Berlin die Unabhängigkeit der Alpenrepublik anerkannte, Wien aber konzedierte, Ãsterreich sei ein »Staat des deutschen Kulturkreises« --
Das aber genügte Hitlers Ehrgeiz nicht, seine Phantasie strebte nach weiteren Horizonten. Er träumte von einer gewaltigen Landgewinnung im Osten. er sah sich an der Spitze groÃer Heermassen dem Reich neuen »Lebensraum« erobern.
Hitler sucht ein neues Konzept für die AuÃenpolitik.
Lebensraum -- der Gedanke hatte ihn seit Mitte der zwanziger Jahre fasziniert. Wer Krieg führen und Machtpolitik betreiben wolle, so schrieb er schon in »Mein Kampf«. müsse über eine ausreichende Landmasse verfügen; diesen Lebensraum aber könne Deutschland nur im Osten erkämpfen, »auf Kosten RuÃlands«.
Diese auf Krieg und brutale Eroberung ausgerichtete Konzeption war jedoch von den Alltagsproblemen der AuÃenpolitik immer mehr verdrängt worden. Jetzt beschäftigte sie Hitler wieder, als er in der privaten Welt des Berghofs nach neuen auÃenpolitischen Konzepten suchte.
Je mehr er die alten Vorstellungen durchdachte, desto stärker muÃte ihm jedoch bewuÃt werden, wie gering die Chance einer Verwirklichung war. Polen und die Tschechoslowakei versperrten den Weg nach Osten, die Wehrmacht war schlecht gerüstet, Deutschland hatte kaum Bundesgenossen.
Hitler selber, 48 Jahre alt, fühlte sich so krank -- er glaubte, an Kehlkopfkrebs zu leiden ---, daà er mit seinem baldigen Ende rechnete. Am meisten aber machte ihm zu schaffen, daà in den Spitzenpositionen des Staates und der Wehrmacht Männer saÃen, die nicht bereit waren, ihm auf der Fahrt in ins Risiko zu folgen.
Vor allem der Aufrüstungshelfer Schacht hatte plötzlich Bedenken bekommen; ihm ging die Aufrüstung zu rasch, sie stürzte das Land in eine Inflation, die kaum noch zu stoppen war.
Die Affäre Blomberg/Fritsch: Hitler entläÃt seine Kritiker.
Der Diktator muÃte befürchten, Schacht werde mit seiner Skepsis die ohnehin nicht sonderlich risikobereiten Militärs anstecken. In dem Gefühl. nicht mehr viel Zeit zu haben, berief Hitler für den Nachmittag des 5. November 1937 eine Konferenz in die Reichskanzlei ein. Thema: Besprechung von Rüstungsfragen.
Vor Blomberg, Göring, Neurath, dem Heeres-Oberbefehlshaber Freiherr von Fritsch und dem Marine-Oberbefehlshaber Raeder entwickelte Hitler, was er sein »politisches Testament« nannte. Bis 1943 müsse Deutschland seinen Lebensraum gewaltsam erweitert haben, müÃten Ãsterreich und die Tschechoslowakei in deutschem Besitz sein.
Die Historiker wollten darin später schon einen Fahrplan für den Krieg sehen -- zu Unrecht: Die Rede des Diktators war allzu vage. Er sagte mit keinem Wort, wo der Lebensraum zu erobern sei, er nannte nur hypothetische Kriegsanlässe.
Hitler erklärte, drei Fälle eines Krieges seien denkbar: das Losschlagen aus eigener EntschluÃkraft im »Zeitpunkt 1943-1945«, ein Bürgerkrieg in Frankreich und ein Krieg zwischen Frankreich und Italien im Jahr 1938. Die drei Fälle traten nicht ein, Hitlers Rede war »eindeutig nicht der Entwurf zur deutschen Politik« so Taylor.
Raeder hatte denn auch das Gefühl, »das Ganze sei wieder einmal nicht so ernst gemeint": schon vor der Konferenz war von Göring der Tip gekommen, Hitler wolle mit seinem Vortrag nur das Heer zu einem schnelleren Rüstungstempo anspornen.
Fritsch allerdings nahm Hitler beim Wort. Er gab zu bedenken, die tschechoslowakischen Grenzbefestigungen seien äuÃerst schwer zu nehmen, und auch im Falle eines französisch-italienischen Krieges müsse man mit einem starken Heer Frankreichs an der deutschen Westgrenze rechnen. Auch von Neurath erhob Einspruch.
Hitler hatte genug gehört. Mit einem solchen Heeres-OB und einem solchen AuÃenminister lieà sich kein neuer Lebensraum für das Reich erkämpfen. Noch überlegte er, wie sich dennoch die Aufrüstung beschleunigen lieÃ, da befreite ihn ein Skandal von den lästig gewordenen Mitarbeitern,
Am 12. Januar 1938 hatte Blomberg die ehemalige Stenotypistin Eva Gruhn geheiratet; sie war Hitler bekannt, seit sie als seine Tischdame an der Hochzeit Görings (1935) teilgenommen hatte. Hitler und Göring waren deshalb sofort bereit gewesen. die Rolle der Trauzeugen zu übernehmen.
Kaum aber waren die Hochzeiter abgereist, da wurden dem Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) Porno- Bilder vorgelegt, auf denen die Frau des Kriegsministers zu sehen war. Ihr Photo fand sich auch in der Sittlichkeitskartei des Amts. RKPA-Chef Arthur Nebe schimpfte: »Und dieser Frau hat der Führer die Hand geküÃt!«
Die Polizisten zogen Göring ins Vertrauen, der sofort erkannte, daà der Skandal Blomberg aus dem Amt vertreiben werde. Wer aber zog dann ins Reichskriegsministerium ein! Kein anderer als der Freiherr von Fritsch, den Hitlers Rede vom 5. November 1937 so verstört hatte. Die Ernennung Fritschs aber wollte Göring auf jeden Fall verhindern, denn er hatte den Ehrgeiz. selber Kriegsminister zu werden -- und er wuÃte auch schon. wie er das anstellen konnte.
Er erinnerte sich an eine alte Gestapo-Akte, in der die Aussage eines Erpressers festgehalten worden war, der 1933 auf einem Berliner Bahnhof einen gleichgeschlechtlichen Akt zwischen Fritsch und
* Niederschrift des Hitler-Adjutanten HoÃbach von der Sitzung in der Reichskanzlei am 5. November 1937
einem Strichjungen beobachtet haben wollte. Göring lieà sich die Akte kommen und fuhr in die Reichskanzlei. um Hitler die peinlichen Nachrichten zu hinterbringen.
Die Doppelaffäre Blomberg. Fritsch erschütterte Hitlers naives Vertrauen in das preuÃisch-deutsche Militär. Fr war, so berichtet Hitler-Adjutant Wiedemann, »derart niedergeschlagen, wie ich ihn während der ganzen vier Jahre. die ich bei ihm Dienst tat, nie gesehen habe. Er ging gebückt, die Hände auf dem Rücken, langsam in seinem Zimmer auf und ab und murmelte vor sich hin, wenn so etwas bei einem deutschen Feldmarschall vorkomme. dann wäre auf dieser Welt alles möglich«.
Kanzler Schuschnigg wird unter Druck gesetzt.
War das nur Schauspielerei? Anfangs sicherlich nicht. Aber bald witterte Hitler die Chance. mit einem hieb die Führungsschicht der Wehrmacht zu entmachten und sich selber an ihre Spitze zu setzen. Mehr noch: Fielen die obersten Militärs, so sollten ihnen nach dem Willen Hitlers sogleich noch die Spitzen der Diplomatie folgen.
Er lieà Fritsch kommen. Der Heeres Oberbefehlshaber machte einen so unsicheren Eindruck, daà es dem Diktator leichtfiel, ihn zum Rücktritt zu zwingen. Erst später, auf Druck einiger Offiziere und Juristen, wurde Fritsch von einem Kriegsgericht rehabilitiert, ohne seinen Posten zurückzuerhalten
Blomberg aber, von dem gesellschaftlichen Boykott des Offizierskorps gekränkt, schlug Hitler bei seinem Abschiedsbesuch vor, er möge doch selber die Leitung des Reichskriegsministeriums übernehmen. Hitler griff den Vorschlag sofort auf.
Am 4. Februar 1938 erfuhr die Nation, daà die einfluÃreichsten Zweifler Hitlers beseitigt worden waren: Fritsch und Blomberg zurückgetreten. Neurath durch den NS-Karrieristen Joachim von Ribbentrop abgelöst, die vier wichtigsten Botschafter zurückgerufen, 16 Generale zwangspensioniert, das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) als höchstes militärisches Führungsorgan geschaffen. Ein Hitler-Opfer blieb unerwähnt: Schacht war ebenfalls zurückgetreten.
Sie lieÃen sich willig aus ihren Ãmtern vertreiben, nur einer bäumte sich gegen Hitlers Diktat auf. Es war der Mann, der ihn einst an die Macht gemogelt hatte: Franz von Papen. der Botschafter in Wien. Er sollte noch einmal eine verhängnisvolle Rolle spielen: sein Egoismus löste aus, was Hitler weit entfernt wähnte -- die Annexion Ãsterreichs.
Als Papen am 4. Februar von seiner Entlassung erfuhr, war er entschlossen, sich nicht um seine Pfründe bringen zu lassen. Er fuhr auf den Berghof und lamentierte, gerade jetzt habe er den Kanzler Schuschnigg soweit, engere Verbindungen mit dem Reich einzugehen; Schuschnigg wolle sich mit Hitler auf dem Berghof aussprechen.
Hitler horchte auf. Er beorderte Papen sofort in die Wiener Botschaft zurück mit dem Auftrag, die Schuschnigg-Visite zu arrangieren. Hitler sah eine Möglichkeit, dem österreichischen Kanzler neue Zugeständnisse abzupressen: er bestellte sich militärische Schaustellungen an der Grenze und drei OKW-Generale auf den Berghof.
Am 12. Februar erschien Schuschnigg mit einer Delegation. Er hatte eben Hitlers Arbeitszimmer betreten. da überfiel ihn der Diktator mit einer Flut von Vorwürfen: Der Wiener Kanzler habe das Abkommen von 1936 sabotiert, er treibe eine »undeutsche Politik«. Dann präsentierte Hitler seine Forderungen; die österreichische Regierung solle NS-Minister aufnehmen, die Polizei sei einem Nationalsozialisten zu unterstellen, die Wirtschafts- und AuÃenpolitik beider Staaten müÃten koordiniert werden.
Empört verlieà Schuschnigg das Arbeitszimmer. Hitler hatte strenge Weisung gegeben, den Gästen weder Essen noch Getränke zu reichen, doch Eva Brauns Hausfrauenlogik rebellierte dagegen. »Der Führer muà essen, und einem Gast gegenüber muà man höflich sein. ganz gleich, wer er ist.«
Beim Mittagessen gab sich Hitler freundlich und gelöst, dann ging sein Nervenkrieg weiter. Während sich die Ãsterreicher besprachen, tönte aus dem Arbeitszimmer Hitlers Stimme: »General Keitel! Wo ist Keitel? Fr soll sofort zu mir kommen.« Den folgenden Dialog hörten die Gäste freilich nicht. Keitel: »Was befehlen Sie, mein Führer?« Hitler: »Gar nichts.
Schon befürchteten Schuschniggs Begleiter, der deutsche Einmarsch in Ãsterreich sei nur noch eine Frage von Stunden. da bewog Papen die Gäste, einem Protokoll zuzustimmen: Schuschnigg versprach, dem gemäÃigten NS-Führer Arthur SeyÃ-Inquart als Innenminister die Kontrolle über die Polizei zu geben und die Koordinierung der Regierungsarbeit beider Länder zu fördern, Hitler verwarf jede illegale Tätigkeit der österreichischen NS- Partei,
Für Hitler war damit das Ãsterreich Thema einstweilen erledigt. Er beriet die fünf radikalsten NS-Führer Ãsterreichs ab und schärfte der Partei ein. jede illegale Tätigkeit sei zu unterlassen. Eine parteiinterne Niederschrift vom 28. Februar 1938 hielt Hitler-Gedanken fest:
Der Führer erklärte, daà er in der Osterreich-Frage der Partei einen anderen Weg weisen müsse, denn die Ãsterreich Frage könne nie durch eine Revolution gelöst werden. Es bleibt nur die Möglichkeit übrig: 1. Gewalt, 2. evolutionärer Weg, und er wünsche, daà der Evolutionäre Weg gewählt werde, ganz egal. oh man schon die Möglichkeit eines Erfolges übersehen könne oder nicht.
Hitler bekundete denn auch in einer Rede seinen »aufrichtigen Dank an den österreichischen Kanzler«. Selbst im Kreise engster Mitarbeiter setzte er auf Schuschnigg: »Seine Absichten über Ãsterreich habe er Schuschnigg völlig klar dargelegt und Schuschnigg habe erklärt, daà er auf lange Sieht mitmachen könne« so ein Protokoll.
Göring nimmt Hitler die Führung aus der Hand.
Da leitete der Wiener Kanzler ein Manöver ein, das Hitler vor aller Welt demütigen muÃte. Schuschnigg entschloà sich am 9. März. binnen vier Tagen eine Volksabstimmung abhalten zu lassen, die den Willen Ãsterreichs zu staatlicher Unabhängigkeit demonstrieren sollte. Ãsterreichs ausländischer Schutzherr Mussolini ("Das ist ein Fehler") war so erschrocken, daà er sofort einen Vertrauten nach Wien entsandte und von der Aktion abraten lieÃ.
Schuschnigg war jedoch seiner Sache so wenig sicher, daà er das Plebiszit durch Manipulation absichern wollte: Das Mindest-Wahlalter wurde auf 24 Jahre festgesetzt, um die NS-verdächtige Jugend fernzuhalten, nur Mitglieder der autoritären Einheitspartei sollten zugelassen werden.
Hitler mochte die Nachricht von dem Schuschnigg-Coup zunächst nicht glauben. Er sträubte sich gegen die Erkenntnis, daà sich ein von ihm miÃhandelter Kontrahent anschickte, den Führer des Deutschen Reiches auszumanövrieren.
Am nächsten Tag, dem 10. März, erkannte er jedoch, welche Chance ihm die Unbesonnenheit Schuschniggs zugespielt hatte. In dem Berchtesgadener Protokoll waren Richtlinien für eine gemeinsame Politik beider Staaten fixiert worden, aus denen Hitler ableiten konnte, er hätte von Schuschnigg zuvor konsultiert werden müssen.
Hitler folgerte willkürlich, Deutschland habe das Recht, Truppen in Ãsterreich einrücken zu lassen. Doch« noch zögerte er, den Einsatzbefehl zu geben. Er fürchtete eine heftige Reaktion der fremden Mächte; vor allem Italien konnte mit eigenen Truppen in Ãsterreich einrücken, ehe die Deutschen eintrafen. Hastig schrieb Hitler einen Brief an Mussolini, den der Prinz Philipp von Hessen sofort nach Rom bringen sollte,
Erst am frühen Morgen des 11. März erteilte Hitler den Einsatzbefehl: »Die für das Unternehmen bestimmten Kräfte des Heeres und der Luftwaffe müssen ab 12. März 1938 (Sonnabend) spätestens 12 Uhr, einmarsch- bzw. einsatzbereit sein.« Dann wartete er ab. Nicht ohne Erstaunen beobachteten seine Mitarbeiter, wie zögernd ihr Führer agierte. Er war zeitweise so entschluÃlos, daà Göring ihm die Leitung der politischen Aktion aus der Hand nahm und am Telephon, ständig mit der Botschaft in Wien verbunden, Ãsterreichs Staatsmänner unter Druck setzte.
Von Stunde zu Stunde wurden Görings Forderungen rüder: Er verlangte den Verzicht auf die Volksabstimmung, er forderte den Rücktritt Schuschniggs, ja die Einsetzung SeyÃ-Inquarts als Bundeskanzler, er wollte sogar ein Telegramm haben, in dem der schwache SeyÃ-Inquart um den deutschen Einmarsch »bat«.
Hitler blieb unruhig in seiner Reichskanzlei und wartete auf Antwort aus Rom. Endlich, um 22.25 Uhr, meldete sich der Prinz von Hessen: »Der Duce hat die ganze Angelegenheit sehr, sehr freundlich aufgenommen.« Hitler: »Dann sagen Sie Mussolini bitte, ich werde ihm das nie vergessen. Nie, nie, nie, es kann sein, was will.«
Hitler: »Ja, richtiges politisches Handeln erspart Blut.«
Erleichtert reiste Hitler zu den Truppenverbänden ab, die zum Einfall in Ãsterreich bereitstanden; Göring hatte inzwischen alle Hindernisse aus dem Wege geräumt -- die Nationalsozialisten hatten auch in Ãsterreich die Macht übernommen. Langsam überquerte Hitler die Grenze, unsicher, wie man ihn empfangen werde.
Doch von Ort zu Ort schwoll ihm immer stärkerer Empfangs-Jubel der Ãsterreicher entgegen. Hitler fuhr bis in das heimatliche Linz und blieb dort die Nacht über. Noch wuÃte er nicht, was aus Ãsterreich werden sollte.
An einen totalen Anschluà des Landes dachte er zunächst (im Gegensatz zu Göring) nicht, ihm schwebte ein zweiter nationalsozialistischer Staat vor, mit Deutschland lediglich verbunden durch eine Personalunion. Da erschien SeyÃ-Inquart bei ihm und meldete, das Kabinett habe den totalen Anschluà beschlossen.
Hitler weinte und konnte nur hervorstoÃen: »Ja, richtiges politisches Handeln erspart Blut.« Kurz darauf rief er Eva Braun an und verabredete sich mit ihr in dem Wiener Hotel »Imperial«, wo sie Zimmer auf dem gleichen Stockwerk nahmen.
Wie in Trance stand Hitler am 15. März 1938 vor den Hunderttausenden in Wien. Die Ekstase der Massen überbot alles, was Hitler bis dahin erlebt hatte. Besessen tönte seine Stimme vom Balkon der Wiener Hofburg: »Ich kann somit in dieser Stunde dem deutschen Volk die gröÃte Vollzugsmeldung meines Leben abstatten. Als der Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.«
Eva Braun schrieb auf einer Postkarte an Verwandte: »Ich bin wie verrückt. Gefährlich und verrückt war in der Tat die Hysterie der AnschluÃtage -- sie brachte Hitler um den letzten Rest von Maà und Besonnenheit. Die schwachen Proteste des Auslands gegen seinen Gewaltstreich bestärkten ihn nur in seinem Auserwähltheitswahn. Jetzt sollte ihn niemand mehr von seiner Bahn abbringen. mit »traumwandlerischer Sicherheit« (Hitler) ging er seinen Weg.
Hitlers Hybris offenbarten auch die gigantomanischen Baupläne, die er mit seinem Freund Albert Speer entwarf. Er wollte Berlin zur »Welthauptstadt« umgestalten, unablässig bastelte er an den Modellbauten, die ihm schon das neue Berlin vorgaukelten: Ein neues Stadtzentrum sollte entstehen mit Rathaus. Kriegsakademie und einer alles beherrschenden Kuppelhalle, der eigentlichen Zentrale des Hitler-Imperiums. Baukosten für Hitlers Metropole: sechs Milliarden Reichsmark (nach heutigen Baupreisen: 24 Milliarden Mark).
Doch nur ein einziger Traumbau wurde verwirklicht: die Neue Reichskanzlei, die Speer zwischen 1938 und 1939 schuf. Als Hitler den Riesenbau und das klotzige Mobiliar sah, jubelte er: »Gut, gut. Wenn das die Diplomaten sehen, werden sie das Fürchten lernen.« Dieser Kulisse bedurfte er -- die »friedlichen« Eroberungen gingen weiter.
Schon wartete auf dem Berghof ein Mann, den er sich zum nützlichen Idioten eines neuen auÃenpolitischen Unternehmens auserwählt hatte: Konrad Henlein, Chef der Sudetendeutschen Partei (SdP) und Wortführer der drei Millionen Deutschen, die sich von der kleinlichen Tschechisierungspolitik der Prager Regierungen benachteiligt fühlten.
Das Schicksal der Deutschen in der Tschechoslowakei interessierte Hitler kaum, ihn faszinierte nur der »Raum« Böhmen und Mähren als Aufmarschgebiet für den erträumten Germanenzug nach RuÃland.
Am 28. März 1938 weihte Hitler den Besucher Henlein in seine Pläne ein: Nach dem Anschluà Ãsterreichs werde sich der nächste Stoà gegen die CSR richten; den ersten Angriff hätten die Sudetendeutschen selber zu führen. Hitler erklärte: »Die SdP muà ihre Zersetzungsarbeit fortsetzen, sie muà der tschechischen Regierung unannehmbare Bedingungen stellen.«
Henlein rekapitulierte: »Das bedeutet also, wir müssen immer so viel fordern, daà wir nicht zufriedengestellt werden können. Hitler: »Genau das meine ich.«
Der SdP-Chef leitete eine Kampagne der Provokationen ein. Am 24. April forderte Henlein auf einem Parteitag, Prag müsse den Sudetendeutschen die bedingungslose Autonomie einräumen, die »volle Freiheit des Bekenntnisses« zur nationalsozialistischen Weltanschauung garantieren und sie für das seit Jahren zugefügte Unrecht entschädigen. Das bedeutete praktisch das Ende der Republik, dennoch lieà sich Prag auf Verhandlungen ein.
Hitler aber wartete geduldig ab, denn er wuÃte, eine Krise um die Sudetendeutschen werde in kurzer Zeit Englands Appeasement-Politiker auf den Plan rufen. Seit der spätere britische AuÃenminister Halifax bei einem Besuch im Berghof (November 1937) Hitler offenbart hatte, seine Regierung werde sich »vernünftigen« deutschen Forderungen nicht verschlieÃen, rechnete der Diktator fest mit Londons Hilfe.
Englands Premierminister Neville Chamberlain drängte Prag denn auch, die sudetendeutschen Forderungen weitgehend zu erfüllen. Als der französische Ministerpräsident Daladier dagegen Bedenken erhob, erklärte ihm der Brite: »Wenn Deutschland sich tatsächlich entschlieÃen wurde, die Tschechoslowakei zu zerstören, dann sehe ich nicht, wie das verhindert werden könnte.«
Die offenkundige Nervosität der Westmächte verschärfte Hitler noch durch Aufmarschvorbereitungen »Es ist mein unabänderlicher Entschluë, so Hitler am 30. Mai, »die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.«
Hitlers Ãberfall-Planungen lösten in den Kabinetten Englands und Frankreichs eine Panik aus. Paris und London verstärkten ihren Druck auf Prag, ein britischer Vermittler wurde in die CSR entsandt, um die Krise zu lösen. Hitler heizte abermals die Spannungen an: Er wies am 10. September seinen Helfer Henlein an, einen Aufstand zu inszenieren.
Einen Tag später rotteten sich SdP-Demonstranten zusammen und provozierten ZusammenstöÃe mit der CSR-Polizei. Der Aufstand brach jedoch rasch zusammen. Nun wurde die Berliner Propagandamaschine eingesetzt: Sie produzierte eine Sturzflut blutrünstiger Nachrichten über das angebliche Martyrium der Sudetendeutschen.
Die Greuelpropaganda tat ihre Wirkung: Zwischen Krieg und Kapitulation schwankend, kam Daladier in der Nacht vom 13. bis 14. September die scheinbar rettende Idee: Man müsse auf einer Drei-Mächte-Konferenz zwischen Deutschland, Frankreich und England alle Probleme lösen auf Kosten der CSR. Es war die Formel für die Kapitulation in München.
Premier Chamberlain meldete sich am 14. September zu einem Blitzbesuch bei Hitler an; einen Tag später saà Chamberlain ihm im Berghof gegenüber. Es fiel Hitler nicht schwer, den Briten von einer Lösung zu überzeugen, die Chamberlain längst zu akzeptieren entschlossen war: Abtretung des Sudetenlandes an das Reich.
Chamberlain überredete die Kabinette in London und Paris, dem Projekt zuzustimmen; gemeinsam rangen sie Prag das Jawort ab. In dem CSR-Präsidenten Benesch brach eine Welt zusammen. »Also doch«, rief er. »man läÃt die Tschechoslowakei im Stich!«
Als Chamberlain am 22. September Hitler im Godesberger Hotel Dreesen den glücklichen Abschluà der Operation meldete, gab sich der Gastgeber unzufrieden. Gesichert durch den inzwischen abgeschlossenen Aufmarsch der Wehrmacht, wollte Hitler allein diktieren.
»Es tut mir sehr leid, Herr Chamberlain«, tönte er, »ich kann auf diese Dinge jetzt nicht mehr eingehen.« Hitler verlangte, das Sudetengebiet müsse nicht -- wie zuvor vereinbart allmählich und unter internationaler Kontrolle, sondern sofort und bedingungslos abgetreten werden. Chamberlain entrüstete sich: »Eine völlig neue Forderung!«
Noch einmal konnte Chamberlain den fragwürdig gewordenen Frieden retten; er akzeptierte auch diese letzte Zumutung Hitlers. Der Rest war diplomatische Routine: Auf einer Konferenz in München sollte Hitlers Sieg nur noch protokolliert werden.
Am 29. September 1938 besiegelte Hitler mit Chamberlain, Daladier und Mussolini die Amputation der Tschechoslowakei. GroÃdeutschlands Führer hatte wieder einmal seinen Willen durchgesetzt. Wie nicht einmal zu Zeiten Bismarcks beherrschte das Reich die europäische Szene.
Adolf Hitler war an einem Kreuzweg angelangt. »Hätte er jetzt innegehalten, vermutet der Historiker Martin Göhring, »so hätte er volle Aussicht gehabt, die letzten Auswirkungen der Niederlage von 1918 zu beheben.«
»Der Nazismus hat endgültig den Rubikon überschritten.«
Der Botschafter Dieckhoff gab dem AuÃenminister Ribbentrop zu bedenken, ein Bismarck hätte in dieser historischen Stunde eingehalten, um seine Position zu festigen. Ribbentrop wuÃte nur eine Antwort: Da kenne Dieckhoff die Dynamik des Nationalsozialismus schlecht. Die Ratio Bismarcks war ebensowenig gefragt wie seine Marmorbüste in der Reichskanzlei, die in jenen Tagen so zu Boden stürzte, daà der Kopf zerbrach.
Hitler wollte keinen Stillstand, keine Pause der Besinnung. Er habe nicht mehr viel Zeit -- das war die Standard-Antwort, mit der er kritische Fragen abtat. Unbeeindruckt von der Friedenssehnsucht seiner Umwelt, schlug er sofort neue aggressive Töne an.
Er verbitte sich die »gouvernantenhafte Bevormundung« durch die Briten, rief Hitler in einer Rede am 9. Oktober, und wenige Wochen später wetterte er auf einer Geheimtagung gegen das »Hühnervolk der überzüchteten Intellektuellen«, die man leider noch brauche. Hitler: »Sonst könnte man sie eines Tages, ja ich weià nicht, ausrotten oder so was.«
Vor allem der »jüdisch-internationale Feind« beherrschte immer mehr sein Denken. Willig duldete er, daà der Propagandaminister Goebbels am 9. November 1938 in einem barbarischen Akt ohnegleichen jüdische Geschäfte, Wohnungen und Gebetshäuser ausplündern lieÃ. Hitler wies jeden zurück, der ihn bat, dem Schandakt Einhalt zu gebieten.
»Die Juden würden bei uns vernichtet«, kündigte er dem CSR-AuÃenminister Chvalkovsky am 21. Januar 1939 an, und neun Tage später drohte er, im Falle eines neuen Weltkrieges werde das Ergebnis »die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa« sein.
Einen neuen Krieg plante Hitler noch nicht, aber die »pazifistische Platte« hielt er nun für »abgespielt«. Im Oktober 1938 waren von ihm gleich zwei Angriffsobjekte anvisiert worden: Am 21. erging eine Weisung für die militärische Zerschlagung der »Rest-Tschechei«, am 24. muÃte Ribbentrop dem polnischen Botschafter die unheilkündende Eröffnung machen, es sei Zeit, alle deutsch-polnischen Gebietsfragen zu lösen. Die Weichen für die Fahrt in den Zweiten Weltkrieg waren gestellt.
Gegenüber Prag konnte Hitler noch einmal erfolgreich das ganze Instrumentarium seiner Eroberungstechnik anwenden. Er lieà die Führer der erzkonservativ-klerikalen Slowakischen Volkspartei zu einem Abfall ihres Landes vom Prager Zentralstaat animieren und ermunterte zugleich die Tschechen zum Niederschlagen eben dieses Abfalls -- in dem Eklat aber bot er sich als Schiedsrichter an.
Tatsächlich meldete sich der kranke CSR-Präsident Hacha am 14. März 1939 zu einem Besuch bei Hitler an, um das Reich zu bitten, in dem Streit zwischen Prag und den Slowaken zu vermitteln. Als Hacha am nächsten Tag in Berlin erschien, hatten indes die slowakischen Führer -- auf deutsches Drängen -- bereits die Unabhängigkeit ihres Landes proklamiert.
Jetzt stellte Hitler dem Präsidenten seine Bedingungen: Die CSR werde in ein Reichsprotektorat Böhmen und Mähren umgewandelt, sie verliere ihre Unabhängigkeit und werde dem Reich angeschlossen; Widerspruch sei nutzlos. Hitler: »Die Würfel sind gefallen, der Befehl zum Einmarsch ist gegeben.
Hacha saà stumm in seinem Sessel; der Präsident war so aufgeregt, daà er einen Herzanfall erlitt und sich nur noch mit Spritzen aufrechthalten konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu kapitulieren. Anderntags lasen die Deutschen, Staatspräsident Hacha habe das Schicksal seines Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers gelegt.
Der deutsche Marsch nach Prag änderte schlagartig die europäische Szene.
»Der Nazismus hat endgültig den Rubikon überschritten«, kommentierte der britische Botschafter in Berlin -- ähnlich hatte 55-Führer Best bei seinem Ritt im Berliner Tiergarten geurteilt. Hitler aber tat die Proteste der Westmächte gegen den Bruch des Münchner Abkommens ab: »In 14 Tagen spricht kein Mensch mehr darüber.«
Noch einmal glaubte er auf die britische Hilfe setzen zu können, als er Polen drängte, Danzig und die 1919 abgetretenen, ehedem deutschen Gebiete dem Reich zurückzugeben. Hitler: »Ich bin felsenfest davon überzeugt, daà weder England noch Frankreich in einen allgemeinen Krieg eintreten werden.«
Hitlers Spekulation war nicht völlig falsch: Trotz ihrer Empörung über Hitlers Vertragsbruch und trotz einer britischen Garantieerklärung für Polen drängten Chamberlain und Halifax die Regierung in Warst hau, mit Hitler zu verhandeln.
Doch Polens Politiker und Militärs legten sich quer. Auch Hitlers überraschendster Streich -- der Abschluà eines Vertrages mit der Sowjet-Union -- lieà die Polen nicht wanken, im Gegenteil: Der Pakt bestätigte nur das jahrhundertealte MiÃtrauen gegen die beiden Nachbarn.
Bis zum letzten Augenblick hoffte Hitler, die Polen würden noch nachgeben. Schon marschierten die deutschen Verbände in ihre Aufmarschräume, die Wehrmacht traf letzte Vorbereitungen für den Ãberfall, da wurde Göring plötzlich von Furcht befallen: »Wir wollen doch das Vabanquespiel lassen.« Hitlers Antwort: »Ich habe in meinem Leben immer vabanque gespielt.«
Als schlieÃlich die groÃdeutschen Divisionen am Morgen des 1. September 1939 in Polen einmarschierten, traf ihn der Schlag, der sein ganzes Spiel ruinierte: England und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg. Adolf Hitler konnte die Nachricht kaum fassen. Nach langem Schweigen kam es aus ihm heraus: »Was nun?«
Ein Spieler hatte sich fatal verspekuliert. Einst hatte er davon geträumt, mit der Rückendeckung des Westens in RuÃland Lebensraum zu erobern -- jetzt betrat er Arm in Arm mit Stalin das Schlachtfeld gegen eben diesen Westen. Hermann Göring aber ahnte schon: »Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein.
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Hitlers Krankheiten: Aus den Akten des Führer-Arztes Erwin Giesing -- Adolf Hitler befiehlt die Ermordung der Juden Europas -- Im Winter 1941/42 erkennt Hitler: Der Krieg ist verloren