Das Geheimnis der heiligen Sachertorte

Süß, delikat und mit makelloser Oberfläche: Die Wiener Sachertorte ist 175 Jahre alt. Das Rezept ist ähnlich geheim wie die Coca-Cola-Rezeptur, was viele Tortenfälscher auf den Plan ruft. Am besten schmeckt immer noch das Original. WELT ONLINE hat allerdings ein Rezept für Sie, das dem sehr nahe kommt.
Manche reisen von weit her nach Wien, um ins "Café Sacher" zu gehen. Höhepunkt ihres Aufenthalts ist ein kleines Stück vom großen Kunstwerk der "wohl berühmtesten Torte der Welt", wie ihr Produzent wirbt, das von einer der livrierten Servierdamen auf dem marmorierten Tischchen abgestellt wird. Ein akkurat geschnittenes Tortenstück, das sich seinem Verzehrer dunkel lockend ausliefert. Der nimmt die Kuchengabel in die Hand und durchstößt mit ihr mal sanft, mal gierig den drei Millimeter dicken Schokoladenguss. Das Gäbelchen fährt durch den Teig und quert eine Marillenmarmeladenpassage, um dann im etwas festeren Teigboden vorläufigen Halt zu finden. Der Bissen wird leicht gelockert, noch einmal gegabelt und dann mit Würde zum Mund geführt. Ein vollkommener Genuss.
Die Original-Sachertorte ist 175 Jahre alt. Sie gehört so unverwechselbar zu Wien wie Fiaker, Lipizzaner und Wiener Sängerknaben. Mehr als 360 000 der Kalorienbomben werden pro Jahr hergestellt, im Kaffeehaus von dafür ausgebildeten Personen in Stücke geteilt oder als Ganzes im hübsch dekorierten Pappholzkästchen in einer Thermopackung auf Weltreise geschickt. Nirgendwo aber schmeckt die schwere Süßigkeit besser als in der Philharmonikerstraße, gleich hinter dem Opernhaus, wo sich nicht nur betagte Menschen mit "Küss die Hand, gnä' Frau" und "Habe die Ehre, Herr Doktor" begrüßen.
Das nationale Heiligtum
Das "Sacher" ist eine österreichische Institution, die Original-Sachertorte ein nationales Heiligtum. Eigentlich ist das Haus, ein stattliches Gründerzeitgebäude, ein Hotel, aber eine Herberge ohne Kaffeehaus fällt in Österreichs mächtigster Operettenstadt durch. Ohne Zurschaustellung geht nichts. So hat das "Sacher", 1876 von Eduard Sacher als Hotel gegründet, stets einen properen Hintergrund für die Berühmtheiten der internationalen Jetset-Kultur abgegeben, war aber auch allzeit auf der Höhe der Zeit. Hier leuchteten die ersten elektrifizierten Kronleuchter Österreichs und hing der erste öffentliche Fernsprecher. Schauspielgrößen wie Orson Welles oder Romy Schneider logierten hier, John Lennon und Yoko Ono gaben lottrig bekleidet aus dem Hotelbett heraus ein provozierendes Interview. Schriftsteller ließen sich von Plüsch und Atmosphäre einfangen und machten das Kaffeehaus zum erweiterten Wohnzimmer. Und alle, alle haben sie Original-Sachertorte gegabelt.
Das "Sacher" trägt den Familiennamen des Gründers, gehört aber seit 1934 dem umtriebigen Hoteliers- und Gastronomen-Clan Gürtler. Der weiß, dass eine stolze Vergangenheit auf Dauer nicht genügt, um in der Gegenwart und bei mächtiger Konkurrenz bestehen zu können. Deshalb trimmten die Eigentümer das altehrwürdige Haus in Richtung Eventkultur, auch wenn das bis heute manchen Traditionalisten beinah die Contenance verlieren lässt. Chillout-Musik statt Klassik, die Kellner fliegenlos, Happy Hour, und erst Mitternacht ist Ultimo. Das mag die urbane Elite. Nur durch diese Verjüngung der traditionellen Kaffeehauskultur könne sie am Leben gehalten werden, glauben die Betreiber. Es sieht so aus, als hätten sie recht. Das Publikum ist jünger, stilbewusster.
Ein Geschenk zum Auftrumpfen
Trotzdem bleibt die Konstante des Unternehmens die Original-Sachertorte, und das Rezept des Konditoren-Meisterstücks seit 175 Jahren ein "streng gehütetes Geheimnis unseres Hauses". In Wahrheit war Habsburgs stockkonservativer Kanzler Metternich Initiator, als er 1832 zur Hochzeit eines befreundeten Künstlers mit einem ganz besonderen Geschenk auftrumpfen wollte. Schließlich blieb das Ganze am 16-jährigen Konditorlehrling Franz Sacher kleben, der schließlich ein schlampert-genialisches Tortenwerk zustande brachte.
Anna Sacher, der Herr im Haus
Was seinerzeit von den Hochzeitern verköstigt wurde, hat keine Chronik festgehalten. Aber die Idee war da, und der junge Sacher war bald ein gemachter Mann, der über die Stationen Bratislava und Budapest triumphierend nach Wien zurückkehrte und eine Feinkosthandlung aufmachte. Seine Erbin Anna Fuchs, eine Frau mit viel Testosteron im Blut und einer Zigarre im Mund, baute den Laden zum Hotel und Kaffeehaus für den Hochadel und dessen Groupies aus. Anna Sacher ("Der Herr im Haus bin ich!"), immer umwuselt von einem Dutzend kleiner Hunde, kriegte sie alle ins Haus - außer den Kaiser. Das wurmte sie so lange, bis es ihr angeblich im Opernhaus gelang, den augenschwachen Franz Josef dazu zu bringen, auf eine Sacher-Serviette seinen Namenszug zu pinseln. Das war der Ritterschlag, ließ die resolute Chefin aber auch abheben. Als sie 1930 starb, hinterließ sie ihren Kindern einen Haufen Schulden. Der Sacher-Nachwuchs meldete Konkurs an, das Hotel wurde verkauft, und Sohn Eduard jr. blieb nur noch das Rezept der Original-Sachertorte, das er ausgerechnet an die ärgste Konkurrenz, die Konditorei "Demel", verscherbelte.
Der Tortenkrieg zwischen "Sacher und Wider-Sacher" (F. Torberg) währte Jahrzehnte, bis sich 1995 ein Wiener Gericht erbarmte und feststellte: Das Original kommt von Sacher. Seither prangt auf der makellosen Oberfläche ein rundes Schokoladensiegel mit der Aufschrift "Hotel Sacher Wien". Todfeind Demel muss "aprikotieren", während Sacher "Marillenmarmelade" in den Teig einflutschen lässt.
Die Zugereisten interessiert die Streithanselei nicht, sie lieben das Sacher. Der britische Autor Nick Hornby und die US-Schauspielikone Jane Fonda, beide jüngst im Haus, ließen sich zum Abschied eine Original-Sachertorte einpacken. Im Holzkästchen natürlich. Aber die Wiener haben, renitent wie sie sind, wenn die Obrigkeit aus dem Off spricht, Partei ergriffen. Sie stimmen mit den Füßen ab, indem sie zum "Demel" gehen.